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Wiegenlied Roman

Titel: Wiegenlied Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Cantz
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gleichgültig welcher Epoche er entstammte, ob es ein guter oder schlechter war, wollte jede Frau immer geheiratet werden und fieberte dem kostbaren Augenblick dieser Frage entgegen. Sie hatte keine Textzeile parat, auf die sie hätte zurückgreifen können.
    »Ich … Wie willst du wissen, dass ausgerechnet ich die Richtige bin?«, sagte sie.
    »Ich weiß es. Die Frage, die es zu beantworten gibt, Elsa, ist, ob du mich liebst.«
    Sie war kurz davor zu weinen, dabei wusste sie ganz und gar nicht, was sie so schmerzhaft empfand, was sie derart traurig machte. Es war das Einzige, was sie ihm sagen konnte.
    »Ich weiß es nicht«, flüsterte sie, sehr leise, sodass er gezwungen war nachzufragen.
    »Was willst du?«
    Wie gern hätte sie ihm etwas erwidert, das ihn glücklich machte, denn so viel, das wusste sie wahrhaftig, lag ihr
an ihm, dass sie ihn nicht unglücklich sehen wollte, weder traurig und schon gar nicht entmutigt, doch um dies zu bewerkstelligen, fehlten Elsa die Redegewandtheit und eine gewisse Freiheit des Herzens.
    »Wäre es schlimm, wenn ich mir eine Bedenkzeit ausbitten müsste?«
    Moritz nahm seine Hände fort, die leicht auf Elsas Beinen gelegen hatten, um sie bei einer plötzlichen Bewegung des Pferdes halten zu können.
    »Vielleicht bis Weihnachten?«, fragte sie schüchtern. Sie glaubte, ihre Zähne müssten aufeinanderschlagen wie an einem Herbsttag ohne Mantel.
    »Du hast mir eine Antwort gegeben«, sagte er, »mehr wollte ich nicht.«
    Er führte das Pferd zurück zur Chaussee, wo er eine Mietdroschke anhielt. Der Kutscher freute sich über einen schnell verdienten Silbertaler für die kurze Fahrt bis zur Französischen Straße. Dort angekommen, wartete er weisungsgemäß, bis Elsa das Haus betreten hatte.
    Eveline erwartete sie bereits. Sie half Elsa beim Entkleiden, weil sie so traurig wirkte, und hoffte, dass der versiegelte Brief, den sie ihr mit der warmen Honigmilch ans Bett bringen würde, sie aufmuntern würde.

    Im kühlen Licht des frühen Tages hatte die Welt sehr klare Konturen. Selbst die Gerüche, so schien es Helene, nahmen in dieser Stunde Gestalt an. Der Leichengeruch war wie ein graues, speckiges Laken. Der Tisch, auf dem der tote Körper lag, schien diesen in sich aufnehmen zu wollen. Wie die
wachsbleiche Haut über den Knochen einsank, so schien sich die seelenlose Hülle der toten Frau in die Holzmaserungen zu schmiegen. Ihr vom Anatomiediener bereits geschorener Kopf, der auf einem Holzklotz ruhte, erinnerte an den eines nackten Vogelkindes, mit Augen tief in den Höhlen liegend, bedeckt von papierdünnen Lidern.
    Die Frau war am Abend zuvor gestorben. Helene hatte die Krankengeschichte der Amalie Penk in ihrem Diario beschrieben. Sie war nicht mehr in ihrer Wohnung gewesen, sondern in der Charité geblieben, seit sich abgezeichnet hatte, dass es keinen guten Ausgang nehmen würde. Es hatte damit begonnen, dass Amalie Penk, zweiundzwanzig Jahre alt und erstgeschwängert, nach heftigem Fieber die von Milch strotzenden Brüste welkten, was sich in der Nacht zum dritten Tage nach der Geburt ihres Sohnes ereignete. Professor Hähnlein verordnete zwölf Blutegel, die Gabe von Extrakten des Lorbeerkrautes und Sandriedgrases. Dem geschwollenen Unterleib sollte mit Kräuterkissen Linderung verschafft werden, und dringlich empfahl Hähnlein, außer dem eigenen auch fremde Kinder anzulegen. Man vermutete die Übernahme der Milchsekretion durch die Unterleibsorgane und versuchte mit jenen Mitteln, sie wieder den Brüsten zuzuleiten.
    Allein, Amalie Penk verhielt sich trotz ihres Fiebers und zunehmender Schwäche widerspenstig gegen alle Vorschriften, sie stieß die Kinder von sich, eines so heftig, dass es zu Boden fiel. Sie hatte weder Liebe zu Gott noch zu den Menschen, am wenigsten zu ihrem Sohn. Der Unterleib schwoll weiter, sie schlief nicht und geriet zunehmend in zänkische Stimmung. Am Mittag des siebten Tages kam sie in große Unruhe. Erneut setzte man ihr zwölf Blutegel und verabreichte
Pulver des Roten Fingerhuts sowie homöopathischen Kampfer. Zum Abend hin wurde der Puls weich, die Augen blau unterlaufen, die Nase spitz. Man versuchte mit Wadenwickeln das hitzige Fieber zu senken, doch vergeblich. Um halb sieben am achten Tag nach der Entbindung verschied sie, in mildem Delirium leise singend.
    Ob ihre Seele wahrhaftig entkommen war? Hatte sie sich, wie der Mensch es so gern glauben wollte, bald oder auch weniger zügig nach dem Tode in die Lüfte erhoben und

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