Wiegenlied Roman
und über dem fleckigen Wangenrot blitzten dunkle Vogelaugen. Sie sog an ihrer Pfeife und paffte Sidonie ins Gesicht.
»Hast du dich mal gefragt, ob dich eine verpfiffen hat?«
»Wenn du was weißt, dann sag’s mir doch einfach.«
Pauline bleckte ihre vom Tabak verfärbten Zähne.
»Was willst du denn mit dem Gör machen, wenn’s erst mal da ist? Teilst du mit ihm den grünen Salon?«
»Ich werd’s gleich auf offener Straße kriegen, wenn du mich nicht vorbeilässt.«
Flink wie eine Ratte huschte Pauline ihr in den Weg, als Sidonie weitergehen wollte.
»Perdita ist verliebt, Mamsellchen. Mach dich auf was gefasst. Die schönen Zeiten als Augenstern von der ollen Roon sind vorbei.«
Sie stieß die Alte zur Seite und ließ sie mitsamt ihrem heiseren Lachen hinter sich. Fürs Erste beschloss Sidonie, ihr kein Wort zu glauben.
Trotz des Stimmengewirrs auf dem Theaterplatz, durch die späten Gesänge der Vögel und über das Hufgeklapper der Droschkenpferde hinweg, trug der Abendwind ihr die Worte so deutlich zu, als wäre ein jedes an sie persönlich gerichtet. Vergeblich versuchte Elsa die beunruhigenden Gedanken abzuschütteln, während sie den anderen Schauspielern über den Gendarmenmarkt folgte. Warum konnte die Stich nicht endlich aufhören zu reden?
Schon vor der Aufführung hatte sie alle mit der besorgniserregenden Neuigkeit über die kleine Habermann um sich
geschart, und die Theaterleute fragten sich jetzt, da sie seit Wochen fehlte, warum niemand auf die Idee gekommen war, Nachforschungen anzustellen. Es fiel Elsa schwer, sich ihr eigenes schlechtes Gewissen einzugestehen. Sie hatte Fanny Habermann nicht mehr gesehen, seit diese ihr an der Garderobentür verschworen den ersten Zettel zugesteckt und geflüstert hatte: »Viel Glück.«
Sie hatte so getan, als hätte es Fanny Habermann unversehens und in völliger Ordnung an einen anderen Ort verschlagen. Sie hatte nicht darüber nachdenken wollen, ob sie an jenem Ort glücklich war, ob sie sich freiwillig dort befand oder nicht. Keine Frage, kein Zweifel, nicht der zaghafteste Anflug von Besorgnis in dieser Hinsicht hatte sich nach Elsas Willen Bedeutung verschaffen sollen. Es war ihr gelungen, sich selbst etwas vorzuspielen, so lange, bis Fannys Bruder den Intendanten am heutigen Mittag in größter Sorge aufgesucht hatte. Familie Habermann in Meyenburg war seit Wochen ohne Brief und Nachricht geblieben, was man zunächst ungewöhnlich, dann beängstigend fand, denn Fanny hatte beinahe täglich geschrieben von allem, was in Berlin vor sich ging und was sie bewegte.
Die Stich hatte sich zum Zeitpunkt des aufwühlenden Besuches im Bureau der Intendanz befunden - so wie nahezu täglich gegen Mittag, denn sie bestand auf einer Tasse China-Tee mit dem Intendanten. Heute hatte es ihr die Gelegenheit verschafft, wie ein Staubkorn im Auge des Orkans zu kreisen, sich von den heftigen Empfindungen des jungen Amtskopisten Habermann berühren zu lassen und ihm die tiefe Betroffenheit des gesamten Ensembles mitzuteilen. Man wollte doch nicht herzlos und teilnahmslos erscheinen! Im Namen aller, die mit wehenden Kleidern und Röcken neben
und hinter der Stich zum Königlichen Palais eilten, hatte sie Bestürzung und Fassungslosigkeit geäußert, man musste ihr dankbar sein.
Es war entsetzlich, dass niemand etwas von der kleinen Habermann wusste. Sie war spurlos verschwunden. Niemand konnte etwas tun, und auch ihr, Elsa, blieb nichts, was sie hätte tun können, ohne ihr eigenes Verbrechen zu offenbaren. Und wer wusste schon, ob das eine mit dem anderen überhaupt in Zusammenhang stand?
Am liebsten hätte Elsa sich geschüttelt, um die verstörenden Gedanken an Fanny Habermann loszuwerden, und noch lieber wäre sie gleich hier in die Französische Straße abgebogen, um nach Hause zu gehen, doch sie hatte, wie alle, der Einladung des Geheimen Cammeriers Timm zu folgen. Sie tastete nach ihrem hochfrisierten Haaransatz im Nacken und zog die langen Handschuhe über den Ellbogen straff, während die Absätze ihrer neuen Atlasschuhe im Rhythmus ihrer schnellen Schritte über das Pflaster klackerten. Obwohl sie wusste, welchen Effekt das puderhelle Musselin ihres Kleides bei untergehender Sonne auf ihrer Haut machte, waren die neugierigen Blicke der Flaneure ihr heute lästig, sosehr sie es ansonsten liebte, von den Leuten erkannt zu werden.
Wenn der liebenswürdige Timm nach dem Theater einlud, bedeutete dies, dass der König sich zu einem ungezwungenen
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