Wiegenlied Roman
mit ihren breiten Rücken, den in die Seiten gestemmten Fäusten. Die Zofe entnahm die Stücke einzeln, vielleicht mit Bedacht, vielleicht, um die anderen neugierig zu machen,
sie auf die Folter zu spannen, unerträglich für ihn, der nichts erkennen konnte. Die Weiber griffen nach der Wäsche, begutachteten sie, schwatzten durcheinander, Hemden, Strümpfe, Tücher, Nachtgewänder und Hauben, lange und kurze Hosen, Seidenes, Spitze und Taft, alles wurde von einer zur anderen gereicht, flog zwischen ihnen umher, flatterte über ihren dummen Köpfen. Möglicherweise sortierten sie die Dinge nach der Art, wie sie zu waschen waren. Woher sollte er wissen, was sie taten?
Was sahen sie?
Er zuckte zusammen, als er den Mops hecheln hörte. Er musste sich beherrschen, nicht mit dem Stock nach ihm zu schlagen, und als wüsste das elende Geschöpf, dass er zur Untätigkeit verdammt war, hob es das Bein und entleerte sich gegen seinen Schuh. Warmer Urin durchtränkte seine Strümpfe, während ihm schwarz vor Augen wurde vor Wut. Der Hund hob ihm das zerdrückte Gesicht entgegen. Nun war ihm alles gleich. Er musste sich nicht verstecken. Er hatte das Recht, überall auf dem Grund des Königlichen Palais zu sein, es ließe sich behaupten, dass er auch hier im Waschhaus seinen Pflichten nachkam.
Sie verstummten schlagartig, als er durch die Tür trat. Unter den Wasserkesseln prasselten die Holzfeuer, und die von den Bottichen aufsteigenden Dampfschwaden trieben ihm den Schweiß vom Innersten nach außen. Das Haar klebte ihm an den Schläfen, die Luft fuhr ihm heiß in seine Atemwege und ließ ihm die Zunge im Mund anschwellen. Die schweren Plätteisen kamen ihm vor wie wartende Wurfgeschosse, selbst das in den hölzernen Walzen der Wringmaschine gefangene Wäschestück erschien ihm als stumme Warnung.
Der Hund trippelte an ihm vorbei. Eines der Mädchen bückte sich und nahm ihn hastig auf den Arm, als gelte es, das Tier vor ihm zu schützen. Schulter an Schulter standen sie vor der Zofe, der Wäsche, dem Tisch. An einem der Zuber rutschte ein Stück Seife vom Waschbrett und fiel glucksend ins Wasser.
Wie aufgeplusterte Gänse verharrten sie mit ihren schneeweißen Hauben, den roten, verstockten Gesichtern. Sie fürchteten ihn nicht. Sie würden ihm nichts von Bedeutung sagen.
Sechs
SEPTEMBER 1828
Helene reichte ihrem Vater einige letzte Bücher, die er, seiner undurchschaubaren Ordnung folgend, in eines der Wandregale zwischen den kleinen, zu den Charité-Gärten hinausgehenden Fenstern sortierte. Aus einer Kiste, die seine Kleider enthielt, lud sie sich eine Reihe Hemden auf den Arm.
»Ich werde sie in die Kommode räumen, bevor du dir einen merkwürdigen Aufenthaltsort für sie ausdenkst.«
»Du solltest dich ausruhen, nachdem du eine Vollmondnacht mit zwei Geburten hinter dir hast«, rief er ihr ins angrenzende Schlafzimmer nach.
»Soll doch Novak sich ausschlafen«, rief sie zurück. »Er hat zwei Zangengeburten daraus gemacht, wobei eine unnötig war.«
Es war kaum mehr als ein Kämmerchen, wo ihr Vater schlief, denn man hatte den Professor, widerstrebend zwar, aber auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin dann doch, im Dachgeschoss der Charité untergebracht, da er, so hatte er an die Direktion geschrieben, an dieser Gewohnheit hing.
»Ich hoffe, dein vorwitziger Ton bleibt unter uns«, hörte sie ihn besorgt sagen. »Es wäre in deiner Lage unklug, Hähnleins ersten Assistenten gegen dich aufzubringen.«
Als sie von der Kommode zurücktrat, um zu prüfen, wie ernst sie seine Ermahnung nehmen sollte, sah sie ihn ein Porträt ihrer Mutter aufhängen. Es war eine Rötelzeichnung, mit
der ein junger Künstler die Entbindung seines Kindes bezahlt hatte. Helene kannte das Bild, seit sie denken konnte. Auf den blauen Wänden des Wohnzimmers in der Hofstatt musste sein Verschwinden einen hellen Fleck hinterlassen haben. Es war das einzige Bild, das ihr Vater nach Berlin mitgebracht hatte.
Plötzlich bekümmerte sie die Vorstellung, das Elternhaus von fremden Menschen bewohnt zu wissen. Deutlicher noch als mit dem Tod ihrer Mutter schien dadurch ein Teil ihres Lebens für immer verloren. Der Gedanke versetzte ihr einen Stich, obwohl sie sich doch von Marburg fort und ihren Vater hierhergesehnt hatte. Der Tag seiner Ankunft war der glücklichste Tag seit Langem gewesen.
Seitdem hatte er jede Nacht mit ihr in der Gebärabteilung zugebracht, bis ihn die Müdigkeit übermannte, was nach den Anstrengungen der Reise und
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