Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Wiegenlied Roman

Titel: Wiegenlied Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Cantz
Vom Netzwerk:
davongemacht? War die Seele Amalies jetzt frei?
    Über den Körper hinweg sah Helene Professor Hähnlein an. Er wusste genau, was sie dachte, er ahnte wohl recht präzise, was sie empfand. Das Lederetui mit seinem persönlichen Sezierbesteck lag in seiner ruhig ausgestreckten Hand.
    »Sie müssen es nicht tun«, sagte er. »Darin liegt der Vorteil Ihrer besonderen Lage.«
    »Ich will es unbedingt«, sagte sie.
    Helene hatte unzählige Tote gesehen, Neugeborene vor allem und Frauen. Sie hatte Sektionen beigewohnt, viele Male. Jedoch war selbst ihr Vater, der sich stets bereitgefunden hatte, sie zu unterrichten, davor zurückgeschreckt, sie eine eigene Sektion durchführen zu lassen.
    Sie nahm das Messer von mittlerer Stärke und setzte den Zeigefinger auf den Messerrücken, bevor sie die Spitze über der eingefallenen Bauchdecke absenkte, um den ersten Schnitt zu machen. Die Haut öffnete sich ohne Widerstand, die Klinge fuhr durch die dünne Fettschicht und traf auf das rote Muskelgewebe. Es gab keinen Moment des Zögerns, bevor sie den Druck leicht verstärkte und das Messer bis zum Schambein in gerader Linie durchzog. Professor
Hähnlein reichte ihr die Haken. Sie hatte den Bauchraum geöffnet.
    Der Anatomiediener - der seiner Arbeit in einer Schürze aus gewachster Leinwand nachkam und, wie Helene es zuvor noch nicht gesehen hatte, aber zutiefst verständlich fand, mit einem schwarzen Tuch vor Mund und Nase - stellte eine Zinnschale neben dem Leichnam ab und rückte das Bänkchen zum Ablegen der Instrumente neben die knochigen Schenkel der Toten. Das Sonnenlicht traf indessen durch die schmalen Sprossenfenster des Charité-Totenhauses exakt auf die Mitte des Tisches. Wie Helene hatte Hähnlein inzwischen die Ärmel aufgekrempelt und eine lange Schürze angelegt. Sie würden das Innere der Bauchhöhle ohne Talglicht untersuchen können.
    Nachdem der Professor die Darmschlingen beiseitegeschoben hatte, fanden sie, was ein übler Geruch hatte ahnen lassen. Das kleine Becken war angefüllt mit einer milchigen, flockigen Flüssigkeit.
    Beinahe zögernd übergab der Anatomiediener eines der Schöpfgefäße vom Wandbord an die unerschrockene Privatschülerin des Professors, als dieser ihn darum bat. Das hastige Klappern von Holzpantinen unterbrach Hähnleins lautes Nachdenken darüber, ob es tatsächlich Milch war, was sich in der Bauchhöhle Amalie Penks befand.
    Unwillig sah Hähnlein auf, als Boltz, der Krankenwärter, seinen Namen haspelte.
    »Doktor Novak lässt Sie in das Geburtszimmer bitten, Herr Professor.«
    Keuchend verblieb Boltz an der Tür, durch die er nicht einen Schritt zu setzen gedachte. Striemen von heftigem Kratzen leuchteten wie Feuermale in seinem Gesicht.

    »Und da schickt er Sie?«
    »War gerade keiner da von den Hausknechten, und irgendwas ist anders, als es sein soll, bei der Pahlke ihrer Niederkunft.«
    »Dorothea Pahlke? Seltsam, also …«
    »Möchten Sie, dass ich mitkomme?«, fragte Helene, während sie Hähnlein half, die Schürze abzunehmen. Der Anatomiediener reichte dem Professor ein Leintuch, an dem dieser sich hastig die Hände abwischte, damit er Boltz, dessen klappernde Schritte bereits wieder auf dem Hof zu hören waren, folgen konnte.
    »Schöpfen Sie den Bauchraum aus, Fräulein Heuser, und bringen Sie die Flüssigkeit dem Apotheker, dann werden wir sehen, ob wir Ihre Assistenz tatsächlich noch benötigen.«
    »Werden wir die Sektion fortsetzen?«
    Professor Hähnlein lächelte.
    »Ich denke, etwas Schlaf würde Ihnen zuvor guttun, meinen Sie nicht?«
    Die kindskopfgroße Geschwulst am rechten Ovarium der Toten entdeckte Helene, während der Anatomiediener das Glas mit der Flüssigkeit aus der Bauchhöhle verschloss. Sie würde warten müssen, Hähnlein davon Mitteilung zu machen.
    Dankend nahm sie dem Mann das Glas ab, und da er ihr kein Tuch anbot, um sich reinigen zu können, nahm sie einen Umweg zum Brunnen im Hof, bevor sie in das Charité-Gebäude zurückkehrte. Eine der Mägde überließ ihr einen Eimer, wich jedoch zurück, als Helene sich die Hände bis zu den Ellbogen hinauf mit dem sauberen Teil ihrer Schürze schrubbte. Mochte es an dem Geruch liegen, der an ihr haften blieb oder sich aus dem Glas drängte, Helene
dachte nicht einen Moment lang darüber nach und vergaß es mit dem, was die kommenden Stunden bereithielten, gänzlich.

    Sobald das Hecheln des widerwärtigen kleinen Hundes nicht mehr zu hören war, trat er aus dem Schatten des Torbogens und folgte der

Weitere Kostenlose Bücher