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Wiegenlied Roman

Titel: Wiegenlied Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Cantz
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Sobald er die Zügel aufnahm, um schwungvoll aufzusitzen, würde er über den See blicken.
    Für einen Moment genoss sie das Hervorbrechen ihrer Tränen.
    Barfuß lief sie zu den hohen Fenstern und schob die schweren Portieren zur Seite. Frühnebel hing in den kahlen Bäumen auf der anderen Seite des Sees, und im Schilf stritten sich lautstark zwei Rohrdommeln. Elsas Stirn berührte die kalte Fensterscheibe.
    Inzwischen quälte sie entsetzlichste Eifersucht auf Eliza Radzivill, die unerfüllte Liebe seines Lebens, denn sie war sicher, dass sie es war, die er in manchen leidenschaftlichen Momenten bei ihr zu finden suchte.

    Auch die Verlobung mit der Prinzessin aus Weimar machte ihr zu schaffen. Obwohl er sich über ihre Klugheit, ihre Weimarer Bildung lustig machte, konnte sie doch auch den Respekt spüren, den der Prinz für dieses Mädchen, seine Braut, empfand, das mit seinen gerade siebzehn Jahren von Goethes Farbenlehre zu sprechen wusste, ohne mit der Wimper zu zucken. Wie sollte sie wissen, dass er sich zeit seines Lebens ihrer geistigen Reife unterlegen fühlen würde, obwohl sie oder gerade weil sie so viel jünger war als er?
    Natürlich wünschte Elsa, der Prinz sähe nur sie. Die Ahnung, dass es sich keinesfalls so verhielt, machte alles nur schlimmer. Malvines Worte sickerten ihr in die Seele wie Quecksilber. Obwohl Elsa wusste, was offensichtlich war, hoffte sie auf eine aberwitzige, wilde Stimme, die dem Prinzen diktieren würde, sie sich zur maitresse en titre , einem vollkommen überholten Modell der am Hof geduldeten Geliebten, zu nehmen.
    Und noch während Elsa diesem mehr als absurden Traum nachhing, während das Licht in den Alabasterlampen herunterbrannte, tauchte plötzlich Helene vor ihrem inneren Auge auf, die fragte: »Warum willst du mir nicht sagen, wer der Mann ist, den du liebst?«

    Er stand im ehemaligen Kinderzimmer am Fenster, ohne hinauszublicken. Es war sechs Uhr abends. Die königliche Familie befand sich im Theater. Seit einigen Wochen richtete sich die Aufmerksamkeit auf die Darstellungskunst besonders einer jungen Schauspielerin. Ihr Name fand zuweilen
auch in den Briefen der Unaussprechlichen Erwähnung. Elsa Heuser.
    Mit dem Rücken zu den preußischblauen Samtvorhängen umklammerte er das Fläschchen mit dem Laudanum und stützte sich schwer auf den Stock. Im Kamin knackte das Holz eines üppigen Feuers, das vor etwa einer Stunde von einem der Diener entzündet worden war. Mit Bedacht spürte er dem pulsierenden Schmerz in den Knotenpunkten seines Körpers nach. Dann erst zog er den Korkstöpsel und setzte die Flasche an seine trockenen Lippen.
    Das Laudanum war seit Kurzem sein ständiger Begleiter, wobei er sich auferlegt hatte, es nur zu bestimmten Zeiten einzunehmen. Es war ihm gelungen, Hufeland in eigener Sache abzupassen, als dieser sich im Palais befand, um den Kronprinzen zu visitieren, dessen Ehe fatalerweise kinderlos blieb. Der Leibarzt war ihm freundlich begegnet, hatte sich beinahe melancholisch und erstaunlich detailliert ihrer gemeinsamen Zeiten in Königsberg erinnert.
    Im Chamois-Zimmer nahm er ihn in Augenschein, ließ ihn sich bis aufs Hemd entkleiden und befühlte seine deformierten Gelenke. Er verschrieb ihm Laudanum und machte ihm des Weiteren keinerlei Hoffnungen. Auch empfahl Hufeland ihm, darüber nachzudenken, seinen Dienst zu quittieren, lenkte jedoch sofort ein, sobald sein heller Geist erfasste, dass dies der Tod seines neuen Patienten wäre.
    Das Laudanum war ein Gottesgeschenk. Es linderte nicht nur seine Schmerzen, vielmehr entließ es seine Gedanken in vollkommen unbekannte Richtungen.
    So beobachtete er die Unaussprechliche mit ganz anderen Augen. In seinen Hass mischte sich echtes Interesse.

    War sie klug genug, ein Geheimnis dieses möglichen Ausmaßes zu verbergen? Denn während er nie einen Gedanken daran verschwendet hatte, ob er so etwas wie einen Instinkt überhaupt besaß, beflüsterte ihn eine innere Stimme ständig aufs Neue, dass sie zweifellos ein Geheimnis in sich trug.
    In unsentimentalen Momenten wie diesem, da er es sich gestattete, dem Feuer etwas näher zu treten, und wohlige Wärme die Livree durchdrang, um ihn sehr privat zu berühren, konnte er vor sich selbst zugeben, dass ihn seine besessenen Spekulationen vermutlich am Leben hielten. Sie statteten ihn mit einer Kraft aus, die er zuletzt in Luises Diensten verspürt hatte. Ein kurzes, unkontrolliertes Zucken seiner Mundwinkel brachte ihn für den Bruchteil einer

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