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Wiegenlied Roman

Titel: Wiegenlied Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Cantz
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Den 24. setzte kaltes Fieber ein und heftiges Auftreiben des schmerzhaften Unterleibes. Die Respiration war schnell und ängstlich, der Puls hastig und klein. Weder Kampfer noch Kalomel, weder Opium noch Zugpflaster, keine Bäder oder andere äußere Mittel halfen. Sie starb in Agonie am 1. November.
    Inzwischen folgten ihr neun weitere Frauen in den Tod.
    Die jüngste von ihnen, Friederike Thielebein, eine neunzehnjährige Erstschwangere, erlag dem Fieber am gestrigen 1. November.
    Ihr Sterben zog sich über acht Tage hin und begann wie bei allen mit Frostanfällen, setzte sich mit Kopfschmerz fort, Hitze und Schweiß. Der Puls zeigte sich schnell, hart und stark, die Respiration gejagt und angstvoll. Ihr Durst war groß, das Gesicht gelb und verstellt. Zweimal stündlich erhielt sie zwei Gran China. Trotzdem traten täglich drei bis vier Schüttelfröste ein. Das Ende kam mit Durchfällen und Delirium. Gaben von Drachenwurz und Moschus veränderten am siebten Tag
die Erkrankung ihrer Sinne. Haut und Zunge wurden wieder feucht, das Bewusstsein kehrte zurück, Frost und Durchfälle blieben aus. Sie sah ihr Kind, hielt es den Nachmittag über bei sich und war glücklich.
    Allein in der Nacht zum 1. November fiel sie in Todesschlaf und starb morgens um elf Uhr.
    Helene legte die Feder beiseite und stützte den Kopf in die Hände. Sie war zutiefst erschöpft wie jeder auf der Entbindungsabteilung. Seit Tagen war sie nicht zu Hause gewesen. Sie schlief in der Wohnung ihres Vaters, wenn er wachte.
    Friederike Köpke hatte ihr durch Oskar Leibwäsche, Strümpfe und ein Kleid zum Wechseln schicken lassen. Sie war noch immer eine Arztfrau durch und durch.
    Kaum wagte Helene es, ihre steifen Glieder zu strecken, denn hinter ihr, im Bett der Hebammenkammer, schlief Sidonie mit ihrem Kind. Endlich! Nach dem vorangegangenen Disput empfand Helene es als unendliche Erleichterung, denn beinahe hätte Sidonie die Charité mitsamt ihrer Tochter fluchtartig verlassen, was sie um jeden Preis hatte verhindern müssen.
    Helenes Vorhaben, Sidonie wie eine außerordentlich bedeutsame Person von den anderen Patientinnen abzusondern, hatte bei Novak und leider auch bei Professor Hähnlein vehementen Unmut provoziert, nicht zu reden von ihrem Versuch, Finlays Mitteilungen hilfreich umzusetzen.
    Statt das gesamte medizinische Personal der Abteilung mit pausenlosen Waschungen, groteskem Kleiderwechsel und rituellen Wäscheverbrennungen aufzuhalten, setzten sie auf die bewährten Mittel, um die ohnehin angstgeschwängerte Stimmung durch befremdliche Handlungen nicht noch weiter
zu befördern. Bei den Wöchnerinnen galt es, Gemütsaffekte zu vermeiden, des Weiteren namentlich Erkältung und Diätfehler. Dass man dabei für gehörige Räumlichkeit zu sorgen hatte, war nichts Neues.
    »Was anderes habe ich getan?«, wagte Helene an dieser Stelle einzuwerfen. »Ich habe eine gesunde Wöchnerin von den erkrankten isoliert.«
    »Der Punkt ist, dass Sie planlos und von Sentiment geleitet vorgehen, Heuser«, sagte Novak, »und das nutzt niemandem.«
    Von den nervös hingepafften Qualmkringeln aus Hähnleins Pfeife ließ er sich zwar nicht zurückhalten, doch hatte er seinen Kopf abbittend in Richtung ihres Vaters geneigt, und Helene dachte flüchtig, wie ungemein anstrengend es für ihn sein musste, ständig die enervierende Tochter eines Gelehrten vor sich zu haben, den er durchaus bewunderte.
    Sie wollten Indikationen besprechen, daran lag ihnen dringlich. Von den Methoden eines schwedischen Arztes aus dem Mund einer jungen Frau zu hören, die offiziell lediglich die Stellung einer Hebamme bekleidete, war den Männern lästig.
    Helene, die auf die Zustimmung ihres Vaters hoffte, mindestens doch auf eine freigeistige Ventilation der Ideen aus Schweden, sah sich enttäuscht, denn Professor Clemens Heuser hing im Geheimen ganz anderen Ideen nach (wofür er sich selbst verabscheute, doch das wiederum konnte niemand ahnen, nicht mal Helene).
    Während Hähnlein und Novak hitzig über Injektionen von Gerstenabsud, über die Anwendung salzsaurer Räucherungen, warmer Umschläge und trockener Schröpfköpfe sinnierten, während sie die Gabe versüßten Quecksilbers, Mohnsaftes
und starke Aderlässe gegeneinander abwogen und Überlegungen anstellten, die Brüste der contagiös erfassten Frauen von jungen Hunden aussaugen zu lassen, zog sich Professor Clemens Heuser in eine weit entfernte, innere Welt zurück, um einsam die Schreckgespenster seiner

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