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Wiegenlied Roman

Titel: Wiegenlied Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Cantz
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Erstgeborener, die beiden anderen sind kurz nach der Geburt gestorben. Es waren Mädchen.«
    Sie glättete ihre Schürze über den Knien und legte die Stirn in Falten.
    »Nun, als ich wieder Kindsregungen spürte, war Viktor schon vierzehn und im Grauen Kloster ein sehr guter Schüler, der ganze Stolz seines Vaters. Und so dachte ich, vielleicht ist dies ein Geschenk Gottes. Vielleicht werde ich noch die Tochter haben, die ich mir immer wünschte. Eine kleine Gefährtin, so wie Sie es sicher für Ihre Mutter waren, mein Kind.«

    Helene fragte sich, ob sie ihrer Mutter tatsächlich eine Gefährtin gewesen war, während sie Rosalie betrachtete, die schweigend ihren eigenen Gedanken nachhing. Ich hoffe es, dachte Helene, und schon im nächsten Augenblick wusste sie es. Die Gewissheit breitete sich wie warmes Öl in ihr aus, und sie war Rosalie dankbar dafür. Es war dies der Moment, da sie die Warnungen des Apothekers in den Wind schlug, um seine Mutter mit allem, was sie sagte, beim Wort zu nehmen.
    »Dass diese Schwangerschaft vom ersten Moment meiner Wahrnehmung an von Schmerzen begleitet war …«, sagte Rosalie leise, »… ich nahm es als Prüfung, als Willen Gottes, dem ich mich zu unterwerfen hatte, und ich tat es gern. Dann endlich, im April 1789, stellten sich zur gewöhnlichen Zeit alle Zeichen der Niederkunft ein. Es waren heftige Wehen, die sich lang hinzogen, bis das Kind so weit vorgerückt war, dass die Hebamme sagte, es würde in zwei Minuten zutage gefördert sein. Doch so kam es nicht. Eine einzige unbedachte Bewegung war es, die ich machte, um meine schmerzhafte Position zu verändern, diese einzige selbstsüchtige Bewegung war es, die dazu führte, dass mein Kind den Händen der Hebamme entschlüpfte.«
    »Entschlüpfte?«, fragte Helene flüsternd. »Wohin?«
    »Man wusste es nicht«, wisperte Rosalie. Sie beugte sich vor auf ihrem Stuhl. »Sie fanden es nicht. Weder die Hebamme noch der hinzugerufene Arzt. Dabei konnte es doch nicht weit kommen. Es ist noch in mir.«
    »Was wollen Sie damit sagen, Rosalie?«
    »Ich sage Ihnen, meine Kleine, dass ich seit neununddreißig Jahren ein Kind in mir trage, das nicht den Gesetzen der
Natur gehorchte. Es kam nicht zur Welt. Es hat sich in mir verkrochen.«
    Jedes einzelne Körperhaar Helenes stand mit einem Mal stramm, so unglaublich, derart unheimlich und verstörend war das, was Rosalie sich von der Seele sprach.
    »Ich verstehe nicht«, sagte Helene.
    »Niemand versteht das, mein Kind«, sagte Rosalie. »Das ist, womit ich schon so lange lebe.«

    Während Elsa dem Prinzen zusah, wie er sich ankleidete, schlang sie die warme Decke um sich und zog die Beine an, wohl wissend, dass die Konturen ihres Körpers so aufs Schönste zur Geltung kamen.
    Jeder ihrer freien Abende gehörte nun Wilhelm Ludwig, und obwohl es nicht eben viel Zeit war, die sie miteinander verbringen konnten, hatte es gereicht, dass sie sich ernsthaft in ihn verliebte.
    Sein Blick traf den ihren, während er sich mit der Rechten durch die Locken fuhr. Er stieg in die Stiefel und richtete sich auf, um seine Weste zuzuknöpfen. Er ließ die Augenbrauen hochschnellen und lächelte. Es war eben diese Verschmelzung von jungenhaftem und so sehr männlichem Charme, die sie um den Verstand brachte. Nie wusste sie, was er dachte. Er war aufmerksam, zärtlich, manchmal scheu und dann wieder auf eine Weise bestimmt, die spiegelte, wie er groß geworden, wie er erzogen worden war. Er gab ihr Rätsel auf, indem er sich hingab und bald darauf freundlich, nahezu höflich, entzog.
    Er war unwiderstehlich.

    Sie spürte sein Herz rasen, wenn sie einander im Alkoven in die Arme glitten. Mit größtem Entzücken hörte sie die wehmütigen Laute seiner Lust, und in gleichem Maße empfand sie, dass er weit fort war, obwohl er ihre Nähe suchte. So kam es, dass sie endlich glaubte zu wissen, was Liebe war. Verlangen und Schmerz, die Angst, den anderen nie ganz besitzen zu können, Hingabe, in der die Lust stets von Traurigkeit begleitet war.
    La mort dans le cœur .
    »Ma chère«, sagte er. »Ich brenne darauf, dich wiederzusehen.«
    Er beugte sich zu ihr herab, hob ihr Kinn mit dem Zeigefinger an, küsste ihre Nase, biss ihr ins Ohr und lachte. Wie gut sie wusste, dass dies nicht eben Zeichen der Leidenschaft waren.
    Sie lauschte ihm nach, als er ging. Er würde beim Verlassen des Marmorpalais noch einige Worte mit dem alten Grabow wechseln, dem Hund den Kopf tätscheln und seinem Trakehner den Hals.

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