Wiegenlied Roman
vor dem ersten Schnitt zögern sehen.
Den Menschen, der an den Frauen seine Taten vollbrachte, und man war sich unter den Forensikern einig, dass hier ein und dieselbe Person am Werke war, nannte man nach dem Tod des Mädchens aus der Markgrafenstraße den Engelmacher. Über ihr Sterben waren sogar die Feindseligkeiten zwischen Helene und Novak in den Hintergrund getreten. Inzwischen begann Novak sogar von dem Gedanken abzurücken, dass eine Frau derart zielgerichtet und dreist vorgehen könnte. Man begann sich zu fragen, was diesen Mann, der die Traktionen vornahm, antrieb.
Wollte er den Frauen helfen? Wollte er sie strafen?
Die Polizeibehörde hatte begonnen, Patrouillen durch die Bordellviertel Berlins zu schicken. Man befragte Huren, Bordellwirtinnen und Luden, doch niemand wusste angeblich etwas. Die Charité war entsprechend unterrichtet, denn mit der Sittenpolizei befand man sich schon allein wegen der Syphilitischen in engstem Kontakt.
All das machte Helene Angst. Während sie die düsteren, verstörenden Geheimnisse der Charité teilte, erstellte sie, da sie keinen schriftlichen Entwurf wagte, auf einem inneren Reißbrett den Plan für die heimliche, künstlich herbeigeführte Entbindung des Kindes der fremden Dame von Stand.
Beim Studium der Veröffentlichungen ihres Vaters kam sie sich wie eine Verräterin vor, und wenn sie mit ihm zusammen
war, kämpfte sie gegen das drängende Bedürfnis an, sich ihm anzuvertrauen.
In einem ersten Brief an die Fremde hatte Helene die Idee, ihren Vater ins Vertrauen zu ziehen, offen zur Sprache gebracht, doch diese hatte jene Möglichkeit entschieden und angstvoll abgelehnt. Ihre Briefe, hatten sie einander versichert, würden sie nach dem Lesen auf der Stelle verbrennen, was Helene zunächst dramatisch vorkam und schon beim nächsten Gedanken beruhigend. Denn was, wenn ihre Nachrichten eines Tages gefunden werden würden wie die des Engelmachers?
Elsa nämlich hatte flüsternd Bericht erstattet, während sie von der Pfaueninsel zurück an Land ruderten und die Reiher und Schnepfen ihnen warnend nachzuschreien schienen, dass sie von einem Unbekannten, der ihr als Student der Medizin von einer Person, deren Identität sie nicht offenbaren wollte, empfohlen worden war, in die Straße an der Königsmauer bestellt worden war. Nach Elsas gewisperten, von gleichmäßigen Ruderschlägen untermalten Erläuterungen deutete alles darauf hin, dass sie sich in den Händen des Engelmachers befunden hatte. Jedes Mal, wenn Helene an das Szenario dachte, quälten sie die schrecklichsten Schuldgefühle.
Natürlich hatte sie nach seinem Äußeren gefragt.
»Ich habe ihn kaum angesehen«, sagte Elsa. »Ich wollte nur, dass einfach geschieht, was geschehen sollte, kannst du das verstehen? Und selbst wenn ich gewusst hätte, dass meine Erinnerung an diesen Menschen einmal von Bedeutung sein könnte, hätte meine Wahrnehmung keine andere sein können. Denn ich hoffte nur, Helene, und ich weiß, dass du es verabscheuen wirst, dass dieser Mensch meiner verzweifelten Lage ein Ende setzen würde.«
Das war, dachte Helene inzwischen, womit dieser Mann, der sich mit Bedacht die Nöte unehelich schwangerer Frauen zunutze machte, kalkulierte.
Nein, sie verabscheute ihre Schwester nicht, denn das Wesentliche ihrer Lage war ihr nicht bekannt. Nie war ihr ein Mann jemals so nahe gekommen, dass sie hätte entscheiden müssen, ob sie zulassen wollte, was er begehrte. Seit sie Finlays Brief erhalten hatte, der in ihr vollkommen neue Empfindungen auslöste, meinte sie zuweilen eine Ahnung dessen zu spüren, was Elsa längst erlebt haben musste. Sie fragte sich, warum ihre Schwester nie den Namen des Mannes nannte, der ihr offenbar viel bedeutete.
Mit einem seltsamen Schmerz in ihrem Innersten lehnte Helene sich zurück, bevor sie aufstand.
In einer Stunde begann ihr Dienst in der Charité.
Sie drehte das Licht herunter und verließ ihren Fensterplatz. Wenn es nicht schon dunkel war, so wie jetzt, hatte sie an ihrem Schreibsekretär einen Blick über den Schiffbauerdamm bis hinüber zur Wäschebleiche und den Holzmärkten.
Von ihrem Bett aus konnte sie für gewöhnlich in den Himmel sehen. Die blauen Kattunvorhänge und einige kleine Landschaftsmalereien an den rosenfarbenen Wänden machten das kleine, schmale Zimmer behaglich. Der Kachelofen musste jetzt täglich angefeuert werden, es war kalt geworden. In den vergangenen Tagen hatten die Bäume mit einem Mal ihr letztes Laub
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