Wiegenlied Roman
langjährigen Erfahrungen zu betrachten.
Und während man sich in Hähnleins Dienstzimmer letztlich ebenso ratlos wie verzweifelt auseinandersetzte, spielte sich auf den Gängen etwas gänzlich anderes ab, doch niemand wollte es zur Kenntnis nehmen: Übermütig, letztlich verraten durch ihr ersticktes Gelächter, schäkerten die an diesem Novembertag auf der Station zugelassenen Medizinstudenten nämlich mit den Hebammenschülerinnen, die sich am Ende mit Räucherpfannen gegen sie zur Wehr setzten, wobei sie allerdings gleichfalls lachen mussten. Bei allem Respekt vor dem Ernst der Lage zeigte ihnen ihre Unschuld einen Fluchtweg aus dem Elend, das sie wie alle anderen auszuhalten hatten.
Nicht einmal Novak hatte mehr über die Kraft verfügt, ihnen die unangemessene Heiterkeit übel zu nehmen, als er sie später auf den Gängen erwischte. Tatsächlich fühlte er sich mit seinen achtundzwanzig Jahren plötzlich wie ein steinalter Mann, doch wer wollte das schon wissen?
Helene indessen, die mit ihrem Vater nach dem unvollendeten Disput die Stellung auf der Abteilung hielt, bekam zu hören, was ihn wirklich beschäftigte.
»Zum ersten Mal wünschte ich mir, das alleinige Sagen zu haben.«
Dieser unglaubliche Satz fiel in der vergangenen Nacht, als sie Friederike Thielebein gemeinsam bis an die Schwelle ihres Todes begleitet hatten.
»Warum eigentlich hast du es immer vermieden?«, fragte Helene. Für die befremdlich bescheidene Haltung ihrer beiden Eltern hatte sie niemals Verständnis aufbringen können.
»Weil ich allein der Forschung dienen wollte«, antwortete Clemens. »Inzwischen frage ich mich, ob es die richtige Entscheidung war. Was glaubst du? Habe ich Verantwortlichkeiten gescheut, die solcher Art sind, wie Hähnlein sie jetzt zu tragen hat?«
Sie hatte ihm darauf nicht antworten können. Fast machte es ihr Angst, dass der Vater, dem sie in medizinischen Belangen unerschütterliche Autorität abverlangte, eine derartige Frage an sie stellte.
»Ich glaube, dass dieser schwedische Arzt den richtigen Ansatz verfolgt«, sagte Clemens, während er Friederike zum dritten Mal an der linken Ferse zur Ader ließ.
»Und in deinem Finlay …« - sie war wie vom Schlag getroffen, als er es aussprach - »… erkenne ich mich selbst. Zu der Zeit, als ich das Glück hatte, deiner Mutter zu begegnen, war ich ebenso wie er besessen von dem Wunsch, den Frauen, die sich täglich meiner Visitation zu unterwerfen hatten - beileibe nicht freiwillig, daran hat sich bis heute nichts geändert, das weißt du mindestens ebenso gut wie ich -, zu helfen, ihr Leiden zu lindern. Und manchmal, in unendlich trostlosen Momenten wie diesem, da wir dieser Frau hilflos beim Sterben zusehen, frage ich mich, ob ich nicht einen vollkommen falschen Weg eingeschlagen habe.«
»Aber wie kannst du dich das fragen, Vater? Ohne den Fortschritt der Wissenschaft werden wir niemals etwas ändern, muss ich dir das wirklich sagen? Ich kann es nicht glauben.«
»Meine Tochter.« Er hatte ihre Hände in die seinen genommen. »Du bist so sehr unser Kind. Deine Mutter hat es genauso empfunden, weißt du das?«
Es hatte sie mit beschämendem Stolz erfüllt, das zu hören, und schlimmer noch war, dass er ihr damit keine Neuigkeit mitteilte.
Es war ein fulminantes Spektakel, anlässlich dessen die unsterbliche Liebe des zweitgeborenen Prinzen von Preußen zu Eliza von Radziwill entbrannte, und möglicherweise erklärte dies einiges, zumal es sich um ein Maskenfest handelte, das mit einem Umzug durch den Lustgarten begann und im Weißen Saal des Berliner Schlosses endete, wo man das morgenländische Singspiel Lalla Rookh des englischen Dichters Thomas Moore in einer eigenwilligen Übersetzung gab.
Die Dekorationen stammten von Schinkel, die Musik hatte Spontini komponiert, die einhundertsechzig Darsteller der mit Pomp inszenierten Aufführung rekrutierten sich allein aus der Hofgesellschaft, und ihr Publikum bestand aus nicht weniger als viertausend orientalisch kostümierten Gästen.
Es war im Januar 1821, als man auf derart fantasievolle Weise dem Besuch des nachmaligen Herrschers aller Reußen huldigte. Großfürst Nikolaus hielt sich mit seiner Gemahlin, der Fjodorowna, vormals Charlotte, Schwester des Prinzen, zu jener Zeit für ein ganzes Jahr in Berlin auf. (Dies geschah nach der Totgeburt eines weiblichen Kindes auf Anraten der Ärzte, um ihren melancholischen Episoden ein Ende zu setzen.)
Was Wilhelm Ludwig anging, der mit einer gewissen
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