Wiegenlied Roman
verloren.
Helene schlüpfte in ihren Umhang und schloss die Hutbänder, während sie die Treppen hinablief, vorbei an der Wohnung Friederike Köpkes, mit deren Zurückhaltung sie ebenso gut leben konnte wie diese mit der Zurückgezogenheit
ihres Logisgastes. Einzig ihrer Befürchtung, dass Helene zu wenig essen könnte, verlieh die Witwe mitunter Ausdruck. Auf der Kommode fand sich dann ein Schälchen Kompott, ein Teller mit Gebäck oder etwas Obst, und wenn Helene zur Mittagszeit im Hause war, bestand Friederike Köpke darauf, dass sie eine warme Mahlzeit mit ihr einnahm. Eisern beharrte sie darauf, dass der zwölfjährige Sohn der Köchin sie jeden Abend mit der Laterne zur Charité begleitete.
Oskar wartete verlässlich an der Haustür auf sie. Als sie hinaus auf die Straße traten, fuhr ihnen ein ruppiger Wind in die Kleider, der von den offenen Feldern Spandaus kam.
Meist gingen sie den halbstündigen Weg schweigend nebeneinander her, und sobald sie die Auffahrt der Charité erreichten, drehte der Junge mit einem gemurmelten Gruß ab. Jedes Mal, wenn Helene ihn auf seinen Pantinen davonklappern hörte, nahm sie sich vor, seiner Mutter Geld für Stiefel zu geben, doch war sie nicht sicher, ob sie die Frau womöglich damit beleidigte, denn zu Hause in Marburg hatten sie stets einen anderen Umgang mit Dienstboten gepflegt.
In den Abendstunden senkte sich eine ganz besondere Art der Stille über die Charité. Hunderte von Menschen, die hier unter einem Dach versammelt waren, die Kranken und ihre Ärzte, schienen stärker als in den Stunden des Tages miteinander verbunden zu sein, schlafend und wachend, genesend oder von Schmerzen erfüllt, von Hoffnungen ebenso wie von Ängsten.
Am stärksten war dies bei den Irren zu empfinden, deren Schlafsäle sie auf dem Weg zur Entbindungsabteilung passieren musste.
Diese armen Geschöpfe teilten ihre Nöte so unmittelbar mit. Sie schreckten Helene schon lange nicht mehr. Vielmehr verspürte sie mitunter den Wunsch, sie aufzusuchen, die Gesichter zu den Lauten sehen zu können, deren unverständliche Botschaften sie in den Nächten empfing.
Während Helene die verlassenen Gänge des ersten Stockwerks entlanglief, dachte sie an Sidonie. Schon bald würde sie die Charité verlassen, was es noch dringlicher machte, dass sie selbst sich endlich zu einer Entscheidung durchrang. Wenn sie ihr vorschlagen wollte, was sie seit Tagen erwog, musste sie am besten noch heute mit ihr sprechen.
»Guten Abend, Kind. Wie schön, dass ich Sie treffe. Ich sehe, meine Träume lassen mich nicht im Stich.«
Es war Rosalie Klemms Stimme, die stets klang, als hielte sie ein Lachen zurück. Helene wandte sich zu der alten Apothekerin um und fragte sich, woher sie gekommen sein mochte, denn der lange, von den Wandlaternen nur schwach beleuchtete Gang lag keineswegs in nächster Nähe zur Apotheke.
»Sie sind noch im Haus, Frau Klemm?«
»Ich bin immer im Haus, wussten Sie das nicht?«
»Haben Sie vielleicht auf mich gewartet?«
»Ja«, sagte Rosalie und bedeutete Helene, sich zu ihr hinunterzubeugen. »Ich weiß, dass Sie die Richtige sind für mein Geheimnis, das keiner kennt, und ich will nicht, dass mein Sohn mir in die Quere kommt, wenn ich’s Ihnen erzähle.«
Von den Irren kam ein Schrei, so angstvoll und durchdringend, dass es Helene einen Schauer den Nacken hinunterjagte.
»Ich muss meinen Dienst antreten«, sagte sie. »Die Hebamme Pusche wird schon auf ihre Ablösung warten.«
Rosalies Finger umfassten Helenes Handgelenk.
»Ich komme mit. Es wird niemanden kümmern. Es ist an der Zeit. In meinem Alter kann es ruckzuck zu spät sein für alles.«
Tatsächlich wunderte es weder die Pusche noch Doktor Novak, der eine fiebernde Wöchnerin zur Ader ließ, dass Helene sich in Begleitung von Rosalie Klemm befand. Fast schien es, als würde sie nicht wahrgenommen, als sähe man sie gar nicht, diese kleine, alte Person, die in Helenes Schatten durch den Schlafsaal trippelte und ihr in die Hebammenkammer folgte.
»Ich war fünfunddreißig Jahre alt …«, wisperte Rosalie, sobald sie allein waren, »… als ich mein viertes Kind erwartete.«
Auf dem Stuhl, den Helene ihr angeboten hatte, saß sie wie ein Kind. Ihre Füße, die in schwarzledernen Schnürstiefelchen steckten, berührten kaum den Boden. Das Kleid, über dem sie eine weite Leinenschürze trug, war der alten Mode nach geschnitten, taillenlos fiel es an Rosalies Körper herab.
»Viktor, der Apotheker, ist mein
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