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Wiegenlied Roman

Titel: Wiegenlied Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Cantz
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eine rauchende Frau geküsst.«
    »Hat es dir gefallen?«
    »Ja«, sagte er. »Du gefällst mir sehr, Elsa.«
    Wie weh das tat! Wundervoll.
    »Mein Vater, der König, schrieb zwei Briefe«, fuhr er fort. »Seine Worte hatte er liebevoll, bestimmt und zärtlich gewählt.
Ich erhielt den meinen vom Generaladjutanten überbracht. Mir war, als müsste mein Kopf zerspringen. Ich versprach dem Adjutanten, schriftlich zu antworten, um meinem Vater und mir eine peinliche Aussprache zu ersparen. Aber zuerst schickte ich eine Stafette an Eliza. Sie sollte es von niemandem als mir erfahren.«
    »Hast du sie jemals geküsst?«
    »In Gedanken oft«, sagte er. »In Wahrheit nie.«
    Elsa glitt aus dem Sessel. Sie griff nach seiner Hand, nahm noch einen Zug von der Zigarre und warf sie ins Feuer.
    »Dann küss mich jetzt statt ihrer«, sagte sie.
    Er beugte sich vor und nahm ihr Gesicht in seine Hände, wie er es noch niemals zuvor getan hatte.
    »Ich liebe dich«, sagte er.
    Seine Lippen lagen unendlich sanft auf den ihren, während er sie umfasste und zu sich auf den Schoß zog.
    »Ich liebe dich.«
    »Ja«, sagte sie leise. »Ich weiß.«

    Einer anderen Frau aus einer misslichen Lage helfen zu können, hatte die fremde Dame von Stand zu Tränen gerührt, so jedenfalls berichtete es Hermine von Helmer. Der Geldbetrag zur Anmietung eines kleinen Hauses am Mühlenberg für zunächst ein Jahr war von der jungen Hofdame bereits vor Tagen in der Theatergarderobe an Elsa übergeben worden, und Helene hatte das Häuschen mit Friederike Köpkes Hilfe gefunden. Die Idee, eine junge Prostituierte zurück auf den Pfad der Tugend zu führen, hatte die Witwe in unerwartet sprühende Tatkraft verfallen lassen. In
ihrem weitverzweigten Bekanntenkreis warf sie die Netze aus, und es brauchte lediglich ein Diner, wenige Tage beharrlicher Besuche, Depeschen und Nachfragen, bis sich zeigte, dass ein emeritierter Professor für Staatsarzneikunde sich eines Besitzers mehrerer Berliner Getreidemühlen erinnerte.
    Dieser Herr nannte auf dem Mühlenberg einige einfachste Häuser sein Eigen, die er kaum nötig hatte zu vermieten, doch er fand sich sofort dazu bereit, als man ihn bat. Entsprechend gering fiel die Miete aus, die er verlangte.
    »Sechsundzwanzig Taler für ein Jahr?«, sagte Sidonie, als eben vor ihnen die Flügel der ersten Bockwindmühlen auftauchten. Sie beugte sich vor, wischte mit dem Ärmel über die beschlagene Scheibe, wobei ihr Kind, in wärmste Wolltücher gewickelt, an ihren milchschweren Brüsten friedlich schlummerte. Die Fahrt mit der Mietdroschke hatte die kleine Nelly verlässlich in den Schlaf geschaukelt.
    »Ehrpuzelig«, hatte Sidonie beim Einsteigen vor der Charité gesagt, »da fährt man nun ganz und gar mit einer Eklapage!«
    Zwischen dem Schönhauser und Prenzlauer Tor erstreckten sich Äcker und Wiesen unter einem erbarmungslos grauen Himmel, der seit Stunden schon Sprühregen niederschickte.
    »Was sagt der Mensch dazu«, ließ Sidonie verlauten. »Sechsundzwanzig Taler sind nicht mal ein Dutzend Strümpfe, sofern wir von Schweizer Spitze sprechen.«
    Es war diese Bemerkung, die Helene aus den Gedanken riss und ihr im gleichen Augenblick die Strümpfe der fremden Dame von der Pfaueninsel in Erinnerung brachte. Feine Gebilde, die knapp über den Knien endeten, mit eben einer
Borte feinster Spitze gesäumt, von der Sidonie gerade fantasierte.
    Beinahe als würden sie die Ankunft hinauszögern wollen, fielen Pferd und Droschke unterhalb des Mühlenbergs in ein gemächlicheres Tempo, Helene geriet für einen letzten Moment in wahrhaftig verzweifelte Angst. Während Sidonie in der verschwommenen Novemberregenkulisse die ersten Wohnhäuser ausmachte, während sie sich und ihrem stoisch schlafenden Kind die Vorzüge einer ländlichen Gegend einredete - womit sie sich eindeutig selbst zu trösten gedachte -, trieb Helene haltlos in einem Meer von Gewissensfragen.
    Die Ankunft bei dem kleinen Haus, das sie ansteuerten, würde der Beginn zur Durchführung ihres höchst kriminellen Planes sein, da gab es kein Vertun. Quälend war, dass sie jeden ihrer Schritte mit sich allein verhandeln musste, dass sie hin- und hergerissen war zwischen dem Wunsch, einer vollkommen fremden Frau aus einer ausweglosen Lage zu helfen, und dem Wissen, dass grundfalsch war, was sie plante. Es reichte nicht, dass die Fremde vermocht hatte, sie in ihrem Innersten zu berühren, und es reichte ebenso wenig, dass sie gutmachen wollte, was sie an Elsa

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