Wiener Requiem
Unverständliches vor sich hin.
»Es gibt mehrere Schmierflecken auf diesem Papier«, sagte er schließlich. »Fast in regelmäßigen Abständen. Irgendwo habe ich das schon einmal gesehen.«
»Vielleicht in ihren eigenen Journalen? Im Allgemeinen deutet dies auf jemanden hin, der seine Arbeit korrigiert, bevor die Tinte trocken konnte.«
»Genau«, pflichtete Gross ihm bei. »Sehr gut, Werthen. Auf diese Weise gelangt die Tinte auf den äußeren Rand der Handfläche und hinterlässt in periodischen Abständen Flecken. Übrigens, Ihr Schwiegervater ist eingetroffen.«
»Herr Meisner?« Werthen sah sich im Zimmer um.
»Er ist bei Ihrer Frau Gemahlin, in ihrem Zimmer.«
»Warum haben Sie mir das nicht gleich gesagt?«
Aber Gross richtete seine Aufmerksamkeit wieder ganz der genauen Untersuchung des Briefes von Schreier, den er unter die Linse des Mikroskops legte.
Frau Blatschky winkte Werthen zu, als er auf dem Weg zum Schlafzimmer an der Küche vorbeikam.
»Ich weiß schon«, sagte er zu ihr. »Gross hat es mir erzählt.«
Sie nickte, und er ging weiter zum Schlafzimmer. Dann klopfte er an seine eigene Tür und kam sich wie ein Narr dabei vor.
»Ja?«
Berthe antwortete.
Er öffnete die Tür. Herr Meisner saß auf einem Stuhl neben dem Bett und las aus dem Talmud vor. Mit seinem langen grauen Bart wirkte er fast wie ein Patriarch. Berthe lag im Bett unter der leichten Sommerdecke und gab Werthen durch einHandzeichen zu verstehen, dass er sich ruhig verhalten sollte, weil ihr Vater mit dem Traktat noch nicht fertig war. Soweit Werthen hörte, las er auf Hebräisch aus dem Dritten Traktat der Mischna, in der es um die Ehe geht. Werthen blieb an der Tür stehen, um den alten Herrn die Lesung in Ruhe beenden zu lassen. Seltsamerweise fand er Trost in den gesprochenen Worten, obwohl er nur einige davon verstand. Neben seinen anderen Fähigkeiten war Herr Meisner ein Talmud-Gelehrter, der seinen Glauben lebte. Auch Berthe schien Trost in diesen Worten zu finden, denn sie ließ ihren Kopf auf dem Kissen ruhen und lächelte Werthen liebvoll an.
Nachdem er die Lesung beendet hatte, schob Herr Meisner sorgfältig ein Stück bestickter Seide als Lesezeichen in das Buch, klappte es zu und legte es auf den Nachttisch neben Berthes Exemplar von Bertha von Suttners
Die Waffen nieder! ,
das sie bereits mindestens zum zehnten Mal las.
Dann erhob sich Herr Meisner und lächelte Werthen freundlich an.
»Ich freue mich, Sie wiederzusehen«, sagte er und streckte dem Schwiegersohn seine große Hand entgegen.
Seit der Hochzeit im April hatten sie sich nicht mehr gesehen. Entgegen Berthes Vorahnungen hatte es mit ihrem Vater keinen Streit wegen der rein standesamtlichen Trauung gegeben. Stattdessen hatten Werthens Eltern die Zeremonie boykottiert, weil sie nicht unter kirchlicher Schirmherrschaft stattfand. Ironie, wohin man auch blickt, dachte Werthen. Vor ihm stand ein Mann, der in der modernen Welt den Traditionen treu blieb. Ein frommer Jude, der sich dennoch den Vorstellungen seiner Tochter von ihrer Hochzeit fügte. Seine eigenen Eltern dagegen, aus Überzeugung zum Christentum und derBequemlichkeit halber zum Protestantismus übergetreten, waren dagegen so entsetzt über die Entscheidung für eine standesamtliche Trauung, dass sie ihr fernblieben.
Herr Meisner, seit vielen Jahren verwitwet, neigte dagegen als Vater nie zu überzogenen Reaktionen. Zudem hatte er vielerlei Interessen. Er besaß eine erfolgreiche Schuhfabrik in Linz und galt zudem als einer der bedeutendsten Talmud-Gelehrten in Österreich. Außerdem war er ein Amateurmusiker mit nicht geringem Talent und ein außerordentlich belesener Historiker.
»Ich freue mich ebenfalls sehr, Sie zu sehen, mein Herr.«
Sie drückten sich herzlich die Hände. Dennoch hatte Meisner Werthen niemals aufgefordert, ihn mit dem Familiennamen oder gar mit dem Vornamen anzureden. Tatsächlich kannte Werthen Herrn Meisners Vornamen nicht einmal.
»Vater hat versprochen, dass er diesmal länger als nur ein paar Tage bleiben wird«, sagte Berthe, die wusste, dass Werthen ihren Vater sehr schätzte.
»Jetzt kann ich ja nicht anders, ob ich nun will oder nicht.«
Sie hatten Berthes Vater vorher nichts von ihrer Schwangerschaft erzählt, als Vorsichtsmaßnahme sozusagen, bis die ersten kritischen Monate vorbei und Mutter sowie Kind gesund und wohlauf waren. Offensichtlich hatte sie ihm die Überraschung nun mitgeteilt, und er war ihr deswegen keineswegs böse. Sein Kommentar
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