Wiener Requiem
ließ nur seine übliche, etwas derbe Ironie erkennen.
»Vor allem solange diese Geschichte mit Mahler noch im Gange ist«, setzte der Ältere hinzu. »Sie müssen mich über Ihre Aktivitäten in dieser Sache auf dem Laufenden halten. Ich war 1895 bei der Uraufführung seiner Zweiten Sinfonie in Berlin. Der Mann ist ein begnadeter Komponist. Zwar nicht ganz meinpersönlicher Geschmack, aber er ist eindeutig ein großes Genie.«
Werthen und Berthe lächelten über seine Worte, verbunden durch ein herzliches Gefühl und die Freude darüber, dass sie ihren Vater wieder einmal bei sich hatten. Jetzt waren wie in alten Zeiten sowohl Gross als auch Herr Meisner ihre Hausgäste. Glücklicherweise hatten sie noch nicht begonnen, das zweite Gästezimmer als Kinderzimmer herzurichten.
Beim Abendessen saßen alle vier um den gedeckten Tisch. Berthe hatte Frau Blatschky überredet, noch einmal ihre alten Spezialitäten zu kochen. Die Tage der Bettruhe hatten ihr gutgetan, und der Brechreiz hatte sich fürs erste gelegt.
Aus Achtung vor Herrn Meisner hatte sich Frau Blatschky gegen Schweinefleisch entschieden und stattdessen ein Beuschel vorbereitet, ein köstliches Ragout aus feinen Streifen von Kalbslunge in einer Sahnesauce mit zarten Knödeln. Dazu servierte sie einen Salat aus Endivien und Radicchio mit einem Dressing aus Weinessig und Rapssamenöl.
Gross sagte kein Wort, bevor er nicht seinen Nachschlag vom Beuschel bekommen hatte, während Berthe sich mit dem Salat zufriedengab. Werthen und Herr Meisner unterhielten sich angeregt über den neuesten Skandal im Parlament und den Machtzuwachs von Bürgermeister Luegers Christlich Demokratischer Partei. »Dabei ist er weder christlich noch wirklich demokratisch«, erklärte Herr Meisner.
Als sich Gross schließlich die Lippen mit der Damastserviette abwischte, brachte Herr Meisner die Sprache auf Mahler.
»Also«, sagte er, »auf welchem Stand sind die Ermittlungen?«
In der nächsten halben Stunde berichteten Werthen und Gross abwechselnd von ihren Versuchen, Mahler zu schützen und die für die Attentate verantwortliche Person oder Personen ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Es war ein langer und qualvoller Weg gewesen, der mit Alma Schindlers erstem Alarmruf begann und mit der Untersuchung des Todes von Fräulein Kaspar und Herrn Gunther sowie den Verhören einiger Verdächtiger wie Leitner und dem Inspizienten Blauer weiterging. Nicht zu vergessen die feindseligen Kritiker Hassler und Hanslick, missgünstige Künstler und Interpreten wie Hans Richter und den Anführer der aus der Oper verbannten Claque, Schreier. Sie berichteten ebenfalls von den Verdächtigen aus dem Hause Mahler, wie seine Schwester Justine, die enterbt worden war, der ihm treu ergebenen Natalie Bauer-Lechner und Arnold Rosé, dem Verehrer Justines. Dann beschrieben sie die Mordversuche auf Mahler. Schließlich blieben noch die Festnahme und die Freilassung von Schreier zu erwähnen.
Anschließend führten sie aus, dass ihre Ermittlung wegen des anonymen Briefes eine ganz andere Richtung genommen hatte. Sie hatten der Möglichkeit nachgehen müssen, dass kürzlich verstorbene berühmte Komponisten möglicherweise die Opfer eines Serienmörders waren. Es ging um Bruckner, Brahms und Strauß, wie auch um den jungen Komponisten Alexander Zemlinsky, der einen ähnlichen Unfall wie Mahler erlitten hatte, als er im Carltheater vom Dirigentenpult gestürzt war.
»Im Falle von Brahms«, hob Gross an, »haben wir nachgewiesen, dass sein Tod tatsächlich, wie damals berichtet, eine Folge von Leberkrebs war. Bei Strauß liegt der Fall allerdings anders.«
Er erwähnte kurz die mysteriöse Einladung zur Hofburg, die Strauß letztlich das Leben gekostet hatte.
»Und Bruckner?«, fragte Herr Meisner.
»Wir hatten bisher noch keine Gelegenheit, das genauer zu untersuchen«, sagte Werthen. »Ebenso wenig konnten wir uns bisher den Fall Zemlinsky genauer ansehen.«
»Nach dem letzten Anschlag auf Mahler mussten wir unsere ursprüngliche Ermittlung wieder ins Zentrum unserer Arbeit stellen«, erklärte Gross. »Ihre Tochter und Werthen sind auf einige verblüffende Gegebenheiten in Mahlers Studententagen gestoßen.«
Werthen schilderte die kürzlich ausgegrabenen Informationen über Hans Rott sowie die Gerüchte, dass Mahler Einfälle aus den Werken des toten Komponisten übernommen habe.
»Du hast den Angriff auf dich vergessen, Karl«, sagte Berthe und schob den noch halbvollen Teller mit Salat
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