Wiener Requiem
Forschung und dem Schreiben über die Kriminalistik, wie er sein Feld gern nannte, gewidmet hatte. Die Universität war während des Sommers geschlossen, und so war Gross nach Wien zu einer Konferenz an der dortigen Universität gekommen, während seine Frau Adele Freunde in Paris besuchte.
»Mein Gott«, meinte er und schluckte rasch ein Stück Rindfleisch hinunter, »selbst die Straßen dieser sogenannten Hauptstadt sind eingerahmt von diesen pflanzlichen Eindringlingen.«
»Ach, und ich habe gehört, es soll eine ganz entzückende Stadt sein«, erwiderte Werthen und zwinkerte dabei seiner Frau Berthe zu.
Gross legte Messer und Gabel zur Seite und warf einen vernichtenden Blick auf den Anwalt.
»Mein lieber Werthen, ich kenne Sie seit Jahren und werde deshalb bei dieser vermeintlich unschuldigen Bemerkung nicht gleich aus der Haut fahren. Ich stelle lediglich fest, dass man der Sprache einen Bärendienst erweist, wenn man diesen Ort eine Stadt nennt. Es ist eine staubige und schmutzige Ansammlung armseliger Gebäude, viele äußerlich aufgeputzt, damit sie aussehen wie in der österreichischen Heimat. In Wirklichkeit aber ist es ein Potemkinsches Dorf. Die Fassaden gaukeln uns mehrstöckige Bauten vor, aber im armseligen, dunklen Innern sind sie nur einstöckig oder höchsten zweistöckig. Katharina die Große wäre von dem Blendwerk beeindruckt gewesen.«
Berthe warf ihrem Mann einen Seitenblick zu und hob dann vielsagend die Brauen.
»Ich habe Ihre Mimik durchaus bemerkt, meine Teure«, fuhr Gross fort. »Sie sind offenbar der Ansicht, dass ich übertreibe. Weit gefehlt! Czernowitz rühmt sich einer Bevölkerung von hunderttausend Einwohnern, aber ich muss sehr weit laufen, um auch nur einen einzigen Deutschen zu finden. Diese Ortschaft ist nicht mehr als ein überfülltes jüdisches
Schtetl
; damit will ich natürlich niemanden beleidigen.«
Werthen und Berthe, die beide aus jüdischen Familien stammten, hatten sich bereits allzu sehr an die unbewusst antisemitischen Bemerkungen von Gross gewöhnt, um noch darauf einzugehen. Seltsamerweise glaubte er tatsächlich, er würde mit seinen Bemerkungen niemanden verletzen. Für ihn waren das rein sachliche Feststellungen.
»Ich habe gehört, es gäbe dort viele musikbegeisterte Menschen«, sagte Berthe.
»Sofern sie die eher überhitzte Melodramatik von Zigeunermusik mögen.«
»Gibt es denn gar nichts, weswegen man den Ort empfehlen könnte?«, fragte Werthen.
»Mir wurde gesagt, dass der Mathematiker Leopold Gegenbauer von dort stammt«, erwiderte Gross und nahm sein Besteck wieder auf. »Kurz gesagt, meine Freunde, es ist die tiefste Provinz. Meine arme Gemahlin Adele kommt vor lauter Sehnsucht nach Gesellschaft und Kultur beinahe um. Deshalb flieht sie zu einem Besuch ihrer Cousine nach Paris oder kümmert sich mit viel Getöse um unsere leerstehende Wohnung in Graz, wann immer sie die Möglichkeit dazu sieht. Und was mich angeht, so habe ich ein oder zwei einigermaßen gescheite Schüler. Der Rest würde dem Kaiserreich in der Armee einen besseren Dienst erweisen.«
»Ich bin sicher, dass Sie Ihren Worten selbst nicht ganz glauben, Doktor Gross«, sagte Berthe strahlend.
»Aber ganz gewiss glaube ich das, meine Teure. Und wenn sie schon nicht als Kanonenfutter herhalten sollen, dann könnten sie vielleicht Melker und Stallburschen werden. Czernowitz ist ein furchtbarer Ort. Aber offenbar hat man sich an oberster Stelle endlich dazu entschlossen, meine Arbeit anzuerkennen, und mir diesen Lehrstuhl in Kriminologie eingerichtet. Das ist wirklich der einzige Grund, aus dem ich dort weiter ausharre. Wenn die Kriminalistik je als Wissenschaft anerkannt werden soll, muss ich meinen Fachbereich in ein hervorragendes Zentrum der Forschung und der Ausbildung umgestalten, das denen in Paris oder bei Scotland Yard gleichkommt.«
Sie aßen eine Zeitlang schweigend weiter. Die Uhr an der Wand hinter Werthen tickte in einer angenehmen Tonlage und untermalte damit das Klirren des Bestecks auf dem Porzellan.
Schließlich sah Gross von seiner Mahlzeit auf. »Sie müssen meine schlechten Manieren entschuldigen«, sagte er. »Da plaudere ich endlos über meine eigene Lage und frage gar nicht, wie Sie beide die Zeit verbracht haben.«
»Wir«, begann Werthen zögernd, »wir waren recht beschäftigt.«
Gross rieb sich erwartungsvoll die Hände. »Nun erzählen Sie schon.«
»Wir haben renoviert und neue Möbel gekauft. Eben diese Dinge, die frisch Vermählte so
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