Wiener Requiem
den richtigen Mann für diese Informantenrolle, den jungen Schriftsteller Karl Kraus nämlich, dessen Bekanntschaft er gemacht hatte, als er literarischen Zeitschrifteneinige seiner eigenen Kurzgeschichten angeboten hatte. Trotz seiner Jugend, Kraus war erst fünfundzwanzig, hatte er bereits eine prominente Rolle in der literarischen Welt Wiens übernommen und gehörte den Redaktionsleitungen vieler Journale an. Zunächst hatte er der literarischen Bewegung
Jung Wien
angehört, zu der Leute wie Bahr, der stets in Sandalen herumlaufende Vagabund Peter Altenberg, Richard Beer-Hofmann, Hugo von Hofmannsthal und Felix Salten zählten. Doch schließlich hatte Kraus einen Bruch mit diesen Männern herbeigeführt, als er eine vernichtende Satire über ihr bevorzugtes Kaffeehaus verfasst hatte. In einem anderen satirischen Artikel hatte er sich mit dem Führer der Zionisten Theodor Herzl angelegt, indem er dessen separatistische Ansichten verächtlich machte. Kraus gehörte wie Werthen zu den Juden, die an die Assimilation glaubten.
Neuerdings brachte Kraus sein eigenes Journal,
Die Fackel
, heraus, dessen Inhalt er fast ausschließlich selbst bestritt. Er griff die Habsburger Heuchelei und Korruption an und machte sich über die verschiedensten Bewegungen lustig – angefangen von der Psychoanalyse bis hin zum deutschen Nationalismus.
Kraus wusste bestimmt, wo, wie Gross es ausgedrückt hatte, in Wien der Hund begraben lag. Und das Beste war, dass Kraus zu den Unterstützern Mahlers zählte und ihm dafür Beifall zollte, dass er den Sausstall ausmistete, wie er es in einem seiner Artikel genannt hatte.
Aber Kraus konnte noch warten. Zunächst musste Werthen etwas klarstellen.
»Wir sind hier unterschiedlicher Ansicht, Gross. Sie möchten zunächst den Täter oder die Täter ausfindig machen, um danach weitere Anschläge auf das Leben Mahlers zu verhindern.Also wollen Sie sozusagen die Krankheit heilen. Ich dagegen sehe eher die Möglichkeit der Prävention.«
»Sie wollen doch nicht etwa eine Leibwache für Mahler vorschlagen, Werthen, oder?«, erkundigte sich Gross.
»Karl, Mahler würde dem niemals zustimmen«, setzte Berthe hinzu.
Werthen tippte an seine Nase. »Was er nicht weiß … Ein Gramm Prophylaxe trägt zur Heilung soviel bei wie später ein ganzes Pfund Medizin.«
»Und wen schlagen Sie für diese Rolle vor?«, fragte Gross. »Sie wollen das doch wohl nicht selbst übernehmen?«
Werthen schüttelt den Kopf.
»Und Sie haben hoffentlich keinen dieser Schläger von Klimt im Sinn.« Gross spielte auf ein paar kriminelle Subjekte an, mit denen Klimt bekannt war. Der Maler hatte diese Leute tatsächlich einmal als Leibwächter zur Verteidigung von Werthen und Gross eingesetzt, als deutlich wurde, dass bei ihrem Versuch, Klimt juristisch zu verteidigen, ihrer beider Leben in Gefahr geraten war.
Werthen antwortete nicht auf diese Mutmaßung von Gross.
Berthe lachte leise auf. »Karl, du bist unverbesserlich. Hast du diese Männer etwa bereits beauftragt?«
»Die Idee ist mir erst gestern Nacht gekommen. Ich hatte bisher noch nicht die Zeit, sie in die Tat umzusetzen.«
»Bisher, meinst du?«, hakte sie nach.
»Wir stecken also in einer Sackgasse«, erklärte Gross. »Sie schlagen die eine Vorgehensweise vor und ich eine andere.«
»Gibt es einen Grund, warum wir nicht beide Wege gleichzeitig verfolgen können?«, meinte die praktisch veranlagte Berthe.
Werthen, den es noch immer schmerzte, dass Gross sich in die Ermittlungen gedrängt hatte, stand der Sinn eigentlich nicht danach einzulenken, aber es wurde dennoch ein Waffenstillstand geschlossen.
Später am Morgen gelang es Werthen, mit Klimt Verbindung aufzunehmen, der nun seinerseits den Kontakt zu den beiden Burschen herstellte, die ihnen im vergegangen Jahr geholfen hatten. Sie hießen Herr Prokop und Herr Meier, und Werthen arrangierte ein kurzfristiges, vertrauliches Treffen mit ihnen in ihrem Lieblingslokal – einer Weinstube in der Nähe vom Margarethen-Gürtel unterhalb der Schienen der neuen Stadtbahn. Werthen, der selbst nicht gerade kleinwüchsig war, fühlte sich zwischen diesen an der Bar versammelten ungeschlachten Männern, die Karten spielten und über Geschichten von eingeschlagenen Köpfen und gestohlenen Kutschpferden lachten, wie ein Pygmäe. Prokop und Meier waren noch genauso massig und zwielichtig, wie Werthen sie von früheren Begegnungen in Erinnerung hatte. Aber selbst die beiden wirkten wie lammfromme Klosterbrüder
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