Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wiener Requiem

Wiener Requiem

Titel: Wiener Requiem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Jones
Vom Netzwerk:
ersten Begegnung den Eindruck einer höchst fürsorglichen und besitzergreifenden Frau gemacht. Tatsächlich war dies ein Grund gewesen, auf Berthes Begleitung beim Treffen mit Mahler am Nachmittag zu bestehen. Sie würde Mahlers Schwester gewiss in Verlegenheit bringen und vielleicht ein wenig unvorsichtig machen. Falls es in diesem Fall noch tiefere, bislang verschwiegene Wahrheiten gab, sollte sich die Schwester nicht allzu behaglich fühlen; ebenso wenig wie Mahler selbst.
    Werthens laute Stimme verfehlte ihre Wirkung nicht. Das Dienstmädchen wurde beinahe augenblicklich von Justine Mahler höchstpersönlich ihrer Pflichten entbunden. Sie rauschte angetan mit einem dicken Rock heran. Sie trug zu ihrer Bluse eine breite taubengraue Krawatte wie am Tag zuvor, womöglich war es dieselbe. Die Bluse selbst verschwand auf der Hüfte unter einem weißen Gürtel, der um den Rock gebunden war.
    »Herr Werthen«, begann sie.
    »Fräulein Mahler.« Er nickte. »Ich möchte Ihnen meine Frau, Berthe Meisner, vorstellen.«
    Justine Mahler taxierte Berthe kurz und streckte dann langsam ihre Hand aus.
    »Ist mir ein Vergnügen, Frau Werthen.«
    Berthe ergriff die dargebotene Hand. »Frau Meisner, bitte. Aus beruflichen Gründen habe ich meinen Mädchennamen beibehalten.«
    Justine Mahler zog kurz die Augen zusammen. Diese Informationmissfiel ihr offensichtlich genauso wie der Besuch einer anderen Frau in ihrer Wohnung.
    »Bitte entschuldigen Sie«, erwiderte die Schwester des Komponisten schließlich. »Da ich mich vor allem um die Belange meines Bruders kümmere, bin ich zu wenig an Gesellschaft gewöhnt und vergesse die angemessenen Formalitäten. Also, kommen Sie bitte herein und fühlen Sie sich beide willkommen.«
    Abermals folgte Werthen der Schwester durch die weitläufige Wohnung, durchquerte den äußeren Eingangsbereich hin zu den inneren Räumen. Man hörte eine Violine, etwas von Bach, dachte Werthen, und recht gut gespielt. Berthe und er wurden in denselben Wohnraum geführt, in dem auch sein erstes Treffen mit Mahler stattgefunden hatte. Wie zuvor ruhte Mahler auf einer Liege, aber diesmal lag sein Arm in einer Schlinge. Eine große Frau von klassischer Schönheit spielte die Violine; ihr langes weißes Kleid wand sich in weichem Faltenwurf um ihre Beine. Sie spielte allerdings wenig inspiriert, und nun erkannte Werthen auch das Werk: eine Chaconne aus der zweiten Partita für Solovioline. Er hatte dieses Stück zum ersten Mal als kleiner Junge während eines Dinners im Hause seiner Eltern gehört. Ein junger Wiener Geiger, ein Protegé, kaum älter als Werthen selbst, war zur Unterhaltung der Gäste engagiert worden. Werthen erinnerte sich noch gut an ein Gefühl der Beschämung, da die Gäste dem jungen Musiker keinerlei Aufmerksamkeit schenkten, sondern lachten und tranken. Sie aßen weiter ihre Mahlzeit, es hatte Wildschwein mit Preiselbeeren gegeben, und klirrten dabei mit ihrem silbernen Besteck. Doch Werthen hatte weit von seinen Eltern entfernt am anderen Ende des Tisches gesessen und war von der Musik tiefberührt worden. Er verlor sich in ihr wie noch in keiner anderen Musik. Nur bei geschriebenen Worten – zum Beispiel den Gedichten Schillers – hatte er sich bislang so vergessen können. An diesem Abend, als der junge Wiener so leidenschaftlich diese Noten spielte, die einhundertfünfzig Jahre zuvor komponiert worden waren, hatte Werthen erschüttert festgestellt, dass ihm plötzlich Tränen in den Augen standen. Er bemerkte erst, dass er weinte, als eine einzelne Träne auf den noch unberührten Teller fiel.
    Und jetzt, so viele Jahre später, spürte er wieder dieselbe herzergreifende Rührung, als er die Musik beim Eintreten in den Salon vernahm. Die Frau, die mit geschlossenen Augen spielte, schien ihre Anwesenheit eher zu spüren als zu sehen, denn sie unterbrach unvermittelt ihr Spiel, nahm die Violine mit dramatischer Geste herunter und legte sie in die Beuge ihres rechten Arms. Dann blickte sie zu Werthen und Berthe herüber und neigte dabei ihren Kopf wie eine verwirrte Taube.
    »Aber bitte, Natalie«, sagte Justine Mahler. »Hören Sie nicht wegen uns auf, es war großartig.«
    Die Frau namens Natalie lächelte Justine an, spielte jedoch nicht weiter.
    »Werthen«, rief Mahler von seinem Krankenlager. »Wir müssen aufhören, uns auf diese Weise zu treffen. Sie müssen mich für einen Invaliden halten, dabei bin ich, trotz meiner momentanen Schwäche, eher eine robuste Person. Und wer ist

Weitere Kostenlose Bücher