Wiener Requiem
erreicht.
Schnell löste er die Umwicklung des Lederriemens und ergriff diesen nun allein mit seiner linken Hand. Seine Rechte streckte er nach Mahler aus, streifte dabei die scharfen Enden des Blaubeerbusches, konnte aber schließlich das Handgelenk Mahlers fassen.
»Wenn ich ›Loslassen‹ sage, versuchen Sie, sich nach oben abzustoßen. Verstanden?«
Mit weit geöffneten Augen nickte Mahler.
Werthen umklammerte mit der Linken die Hosenträger fester. Er spreizte die Beine, um einen möglichst festen Stand zu bekommen, und hoffte, dass sein verletztes rechtes Bein nicht nachgeben würde. Dann verstärkte er seinen Griff um Mahlers Handgelenk nochmals und rief: »Loslassen!«
Er zog hart an, und im selben Moment versuchte Mahler sich nach oben abzustoßen, ließ jedoch den Busch nicht los.
»Ich halte Sie«, zischte Werthen. »Lassen Sie den Busch los und versuchen Sie einen Halt für ihre Füße zu finden.«
Er zerrte und kämpfte, um Mahler hinaufzuziehen. Füreinen Moment wurde sein Knie schwach, knickte fast unter ihm ein. Er verlagerte das Gewicht auf sein rechtes Bein, das sich weiter oben befand, und sammelte nochmals seine ganze Kraft.
Laut ächzend begann der Komponist sich den Abhang hinaufzuschieben. Endlich konnte er ein Bein über den Felsvorsprung schwingen, und Werthen wusste, dass sie gewonnen hatten. Aber Mahler ruhte nicht, bevor er nicht ganz bis zum Pfad wieder hinaufgekrabbelt war. Dann rollte er sich auf den Rücken und begann hysterisch zu lachen.
Werthen atmete schwer. Er saß im Nebel an den Stamm der Tanne gelehnt und begann, Mahlers Fahrrad zu untersuchen.
»Das war kein Unfall«, sagte er plötzlich.
Mahler hörte auf zu lachen, rollte sich auf den Bauch, richtete seine Brille und sah zu Werthen auf.
»Ich war auf dem Weg hinunter zu Ihnen, fuhr um diese Kurve und konnte plötzlich nicht mehr bremsen.«
»Kein Wunder«, sagte Werthen und hielt das gerissene Ende des Bremskabels hoch. »Es ist fast ganz durchschnitten worden, so dass es nur wenige Bremsversuche halten sollte.«
»Aber wer …?«, begann Mahler, besann sich dann aber eines Besseren.
Ja, wer? dachte Werthen bei sich. Im Haus hatten sich so viele Besucher aufgehalten, dass an Verdächtigen wahrlich kein Mangel herrschte.
Als sie ihre Räder den Berg hinunterschoben, verschwand der Nebel so schnell, wie er gekommen war, und die Sonne kam wieder hervor. Am Anfang der Serpentinenfahrt kam ihnen eine andere Gruppe von Radlern entgegen, eine schnatternde, lachende Schar von jungen Männern und Frauen.
Werthen staunte, als er in ihrer Mitte niemand anderes als Alma Schindler entdeckte. Sie schien ebenso erstaunt zu sein, doch als er einen Gruß zu ihr hinüberrufen wollte, schüttelte sie hastig den Kopf und lachte dann überlaut über die Bemerkung eines ihrer Kameraden.
Nein, dachte Werthen, als sie ihren Weg fortsetzten, an Verdächtigen mangelt es gewiss nicht.
8. KAPITEL
»Jedem von ihnen hatte sich die Gelegenheit geboten«, sagte Werthen. »Die Fahrräder waren vor der Villa nebeneinander aufgereiht.«
»Aber woher wussten sie, an welchem sie herumhantieren mussten?«, wollte Gross wissen.
»Sie waren entweder teuflisch schlau oder hatten einfach sehr viel Glück.«
»Mahler ist nicht sehr groß. Auch mit wenig Kenntnis des Fahrradfahrens kann jedermann herausfinden, welches Fahrrad für ihn bestimmt war.«
Nachdem dafür gesorgt worden war, dass ein Mitglied der örtlichen Gendarmerie regelmäßig vor der Villa Kerry patrouillierte, war Werthen mit dem morgendlichen Frühzug nach Wien zurückgekehrt. Mahler hatte nichts von einer Rückkehr nach Wien wissen wollen. Seine Sommerwochen waren der Komposition gewidmet, ein geheiligter Grundsatz, auch wenn er lebensgefährlich sein könnte.
Werthen, Berthe und Gross saßen nun am Esstisch und genossen einträchtig ihr Mittagessen. Werthen konnte nur unter großen Schwierigkeiten die Blicke von seiner Frau abwenden, denn ihr Kleid hatte diese entzückende Schattierung eines hellen Blau, das so gut zu ihren Augen passte. Ihr Gesicht war schmal, aber nicht lang, das Kinn kräftig, die Nase an der Spitze leicht gebogen. Bald würden sich dort die ersten Sommersprossenzeigen und unter Puder versteckt werden – Berthes einziger Anflug von Eitelkeit. Ihre ruhige, häusliche Schönheit, eine warme Mischung weiblicher Züge, sollte nicht der ganzen Welt zur Schau gestellt werden.
Werthen verspürte wenig Neigung, diese Angelegenheiten jetzt mit Gross
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