Wiener Requiem
durchzugehen. Viel lieber würde er sich mit Berthe in die Abgeschiedenheit ihres Schlafzimmers zurückziehen, um ihr zu sagen, wie sehr er sie vermisst hatte.
Natürlich gehörte dies nicht zu den Dingen, die ein wohlerzogener Ehemann mitten am Tag tun sollte. Aber er fühlte sich im Moment auch nicht besonders wohlerzogen.
Frau Blatschky hatte sie mit gefüllten grünen Paprika und gekochten Kartoffeln verwöhnt. Die Füllung aus Schweinehackfleisch war mit ungarischem Paprika und Kapern leicht gewürzt, ihren geheimen Zutaten. Berthe schien heute nur wenig Geschmack daran zu finden, fand Werthen, der unaufmerksam Gross folgte, der die Ereignisse während Werthens Abwesenheit erläuterte.
»Unser Herr Schreier, der Anführer der Claque, hat sich ganz wie erwartet als äußerst gereizte Persönlichkeit entpuppt. Ich habe ihn in einem unglaublich heruntergekommenen Café in einem gottverlassenen Außenbezirk getroffen.«
Gross’ Stimme verriet sein deutliches Missfallen, was Werthen und Berthe amüsierte.
»Ja, wirklich«, sagte er, schon an ihre Belustigung gewöhnt. »Gottverlassen ist das einzig angemessene Wort, um einen solchen Ort zu beschreiben. Überall trostlose, von Rauch geschwärzte Arbeiterwohnhäuser, hier und da Überbleibsel eines vergangenen Dorflebens, ein bezauberndes Barockgebäude, verdeckt von ungeschlachten Wohngebäuden. Und das nenntman Fortschritt. Es war, als könnte man die Luft an diesem Ort schmecken.«
»Und Herr Schreier?«, versuchte Werthen ihn auf das Wesentliche zurückzuführen.
»Ja, richtig, ein sehr passender Name. Selbst im Gespräch klingt er grob und ungeschlacht. Die Haare wachsen ihm in Büscheln aus den Ohren. Es wundert mich, dass er überhaupt Zutritt zur Hofoper erhält. Er hat mehr oder weniger zugegeben, dass er Mahler am liebsten tot sehen würde. Er würde alles unterstützen, was notwendig wäre, um Mahler von der Direktion der Hofoper zu entbinden. Er machte auf mich einen verzweifelten Eindruck. Aber«, er legte eine dramatische Pause ein, »er war bei der Probe am Tag von Fräulein Kaspars Tod nicht in der Oper. Drei Stammgäste des Cafés bezeugen dies, der Besitzer ebenfalls. Ich habe mit diesem Mann, einem Herr Radetzky, noch nach meiner Befragung des Herrn Schreier unter vier Augen gesprochen. Es ist kein Zweifel möglich. Radetzky bezeugt, dass Schreier den ganzen Tag an seinem Stammtisch gesessen hat. Nachdem er sich einen einzigen Kaffee einverleibt hatte, verlangte er einen Platzregen nach dem anderen.«
Gross hatte sich in beeindruckender Weise in den Wiener Jargon eingearbeitet, aber Werthen fiel ein, dass er ja in seinem bahnbrechenden Wälzer »Kriminaluntersuchung« ein ganzes Kapitel dem kriminellen Slang gewidmet hatte. »Platzregen« war ein Wiener Slangausdruck für ein kostenloses Glas Wasser, das der Kellner jedem Gast in einem Café brachte, der dann, ohne weitere Getränke bestellen zu müssen, auf seinem Platz sitzen bleiben konnte.
»Wie kann sich Herr Radetzky da so sicher sein?«, wandte Berthe ein.
Gross nickte; darüber hatte er auch schon nachgedacht. »Es war der zwölfte Geburtstag seiner Tochter, und er hatte gehofft, das Café mittags kurz schließen zu können, um ihr ein Geschenk zu kaufen. Aber Schreier bewegte sich nicht von seinem Platz, und das Geschenk musste warten.«
»Sehr anständig von ihm«, bemerkte Werthen ziemlich erstaunt, weil er wie die meisten Wiener schon sein Maß unverschämter Kellner abbekommen hatte. Diese Männer machten sich ihre Gesetze selbst und benahmen sich wie absolute Monarchen in ihren Café-Miniaturimperien. War man ein genehmer Gast, könnte man keinen besseren Verbündeten finden, hatte man jedoch aus welchem Grund auch immer das Missfallen des Herrn Oberkellner erregt, suchte man sich am besten schleunigst ein anderes Café. Man wäre sonst immer derjenige, der als letzter und am grantigsten bedient wurde. Herr Radetzky musste also die große Ausnahme von der Regel des selbstherrlichen Wiener Kellners sein.
Gross informierte sie noch kurz über seine weiteren Nachforschungen, einschließlich der Befragung von Montenuovo, und seine Besuche beim antisemitischen Journalisten Hassler wie auch bei Almas Bewunderer von Tratten. Letzterer hatte, so Gross, ähnliches Missfallen bezüglich Mahler geäußert, konnte aber lückenlose Alibis für die beiden fraglichen Vorfälle vorweisen.
»Natürlich«, sagte Werthen, »beweisen solche Alibis gar nichts. Jedenfalls nicht, wenn es einen
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