Wiener Requiem
Werthen die Sommerwärme in Wien. Es war ein perfekter Tag für einen Verdauungsspaziergang.
»Nein«, sagte sie und griff plötzlich fester nach seiner Hand. »Karl?«
»Ja, Liebste.« Er liebte die trällernde Art, mit der sie seinen Namen aussprach.
»Ich muss dir etwas mitteilen, und ich habe mir wirklich nicht vorgestellt, dass wir dabei auf einer so geschäftigen Straße unterwegs sind.«
»Wirklich? Was gibt es denn?« Werthen war plötzlich beunruhigt. War sie krank? Sie war doch so jung und kräftig.
»Also, am besten sage ich es wohl ganz direkt. Ich … Ich meine wir, also … wir bekommen ein Baby. Ich bin schwanger.«
Diese Nachricht erfüllte Werthen mit einem plötzlichen Hochgefühl, seine Brust schwoll sichtlich an. Ein Kind. Ihr gemeinsames Kind. Und doch fühlte er auch eine plötzliche Traurigkeit aufkommen, seine Eltern, die ihre Heirat abgelehnt hatten, würden diese Freude vermutlich nicht teilen. Würden sie auch ihr Enkelkind ablehnen?
»Das ist eine wunderbare Neuigkeit«, sagte er tonlos.
»Was ist denn los? Du wolltest doch immer ein Kind haben, oder?«
Sie waren mitten auf dem geschäftigen Bürgersteig stehen geblieben, und die Fußgänger murrten vernehmlich, wenn sie ihnen ausweichen mussten.
»Aber natürlich, meine Liebste.« Er erwog kurz, ihr seine Besorgnis anzuvertrauen, entschied sich aber dagegen. Sie sollte sich nicht damit belasten. Sie musste sich jetzt ganz dem kleinen Lebewesen widmen, das in ihr heranwuchs. »Es ist einfach eine große Überraschung.« Er versuchte zu lächeln. »Es ist eine herrliche Überraschung. Und du wirst die allerschönste Mutter in ganz Wien sein.«
Berthe jedoch überlief es bei seiner aufgesetzten Fröhlichkeit kalt.
»Ich befürchte, Gross wird seine Zweitwohnung in Wien verlieren.« Werthen lachte. »Es wird bald eine Kinderstube sein.«
Sie unternahm einen Versuch, in das gezwungene Lachen einzustimmen. Sie hatte gehofft, es würde der glücklichste Tag in ihrem Leben werden.
Stattdessen gingen sie den Rest des Tages schweigend durch den Ersten Bezirk, jeder tief in seine Gedanken versunken.
Herr Tor saß geschäftig an seinem Schreibtisch, als sie ankamen. Werthen war froh darüber, denn er fühlte, dass Berthe ihn nun bald wegen seiner Reaktion auf die Neuigkeit zur Rede stellen würde. Warum sage ich ihr nicht einfach die Wahrheit?, überlegte er. Sie ist meine Frau, sie hat das Recht, von meiner Sorge zu erfahren. Aber ein irregeleiteter männlicher Beschützerinstinkt hielt ihn davon ab, sie damit zu belasten. So konnte das Missverständnis zwischen ihnen weiter wachsen.
Für den Rest des Nachmittags gingen sie beide ihren eigenen Aufgaben nach, Berthe kümmerte sich um lange überfällige Rechnungen – unter anderem diejenige von Klimt –, und Werthen zog sich in sein Büro zurück. Er musste sich um die Probleme einer Treuhandangelegenheit des Grafen Lasko kümmern. Es ging um Komplikationen, für die Tor nicht ausreichend eingearbeitet war. Doch als er sah, was Tor bisher schon bewerkstelligt hatte, war er durchaus zufrieden. Er hatte wohl doch ausreichend Zeit, um weiter über den Fall Mahler zu grübeln.
Er legte sich eine Seite Kanzleipapier bereit, tauchte seinen Federhalter in das Tintenfass auf dem Schreibtisch, dann richtete er drei Rubriken ein: eine für die Verdächtigen in der Hofoper, eine für diejenigen der Villa Kerry und schließlich eine für die Verdächtigen aus Mahlers Vergangenheit, insbesondere aus seinen frühen Tagen in Wien. Die erste Spalte war die längste, auch wenn einige der dort Aufgeführten Alibis vorweisen konnten. Leitner, Blauer, Schreier und Hassler standen ganz oben. Aber auch Richter – mit geringer Wahrscheinlichkeit – und der Tenor Franacek gehörten dazu. Beide warenauch in der Villa Kerry gewesen, genau wie Leitner. Diese kritzelte er in die zweite Spalte. In diese zweite Spalte gehörte außerdem noch der angehende Schwager Rosé, die Schwester Justine und die zurückgewiesene Geliebte Natalie. Alma Schindler erschien Werthen als etwas weit hergeholter Verdacht, nachträglich hatte er herausgefunden, dass sie in Begleitung ihrer Schwester und mehrerer Kusinen an jenem Tag in den Bergen gewesen war. Höchst unwahrscheinlich, dass sie ihrer Begleitung lange genug entwischen konnte, um Mahlers Bremsen zu sabotieren, und ebenso unwahrscheinlich war es, dass sie es alle gemeinsam getan hatten. Aber er konnte Alma und ihre Gefährtinnen auch nicht gänzlich von der Liste
Weitere Kostenlose Bücher