Wiener Requiem
Komplizen gibt.«
Gross nickte wiederum verständnisvoll. »Aber natürlich. Es handelt sich lediglich um ein Mittel, das Feld der in Frage kommenden Personen für den Anfang einzugrenzen. Jeder bleibt dennoch verdächtig. Schade, dass Sie keine Gelegenheit gefundenhaben, Richter ausführlicher zu befragen«, fügte Gross hinzu.
»Was ich gehört habe, hat mich von seiner Unschuld überzeugt«, entgegnete Werthen. »Es stimmt, dass Richter von allen Verdächtigen das stärkste Motiv haben könnte, denn schließlich war er der designierte neue Direktor. Mahler hat nicht nur seine Position übernommen und ist dabei sogar so weit gegangen, auch das Dirigat aller Opern Wagners an sich zu reißen, was bisher Richters Domäne gewesen war; man könnte sagen, er hat den Mann zum Rücktritt getrieben. Aber in Altaussee erweckte Richter den Eindruck, dass er damit wirklich zufrieden war. Er freut sich auf sein Engagement in London. Bei dem Tenor Franacek dagegen bin mir nicht so sicher.«
Werthen informierte die beiden dann, dass auch Alma Schindler sich am Tag der Beinahe-Katastrophe in der Umgebung von Altaussee aufgehalten habe, worauf Gross vernehmlich seufzte.
»Ich hatte gehofft, wir könnten die Liste der Verdächtigen verkürzen, statt sie zu verlängern.«
»In gewisser Weise haben wir dies getan«, entgegnete Werthen. »Abgesehen von der Möglichkeit eines Komplizen, stehen nach diesem letzten Vorfall nur noch diejenigen im Verdacht, die sich zur Tatzeit in oder in der Nähe von Altaussee aufgehalten haben.«
»Abgesehen von möglichen Komplizen«, warf Berthe ein.
»Und abgesehen von der Möglichkeit, dass die Fahrradfabrik oder das Geschäft an den Bremsen herumgepfuscht haben«, fügte Gross hinzu.
Werthen seufzte. Es war unmöglich, diesen Fall einzugrenzen,es gab lediglich einen immer weiter wachsenden Kreis von Verdächtigen.
Sie hatten ihr Mittagessen beendet, und Frau Blatschky servierte die heiß ersehnte Kanne ihres aromatischen und starken Kaffees.
»Es tut mir leid, aber ich habe weitere schlechte Nachrichten«, sagte Berthe plötzlich, »denn die Liste könnte sogar noch länger sein, als wir ursprünglich vermutet haben.« Sie erzählte dann von ihrer Unterhaltung mit Rosa Mayreder beim Mittagessen und der Vermutung, Mahlers Feind könnte aus seiner Vergangenheit stammen, wie das Beispiel Hugo Wolfs nahelegte. Berthe hatte diese Information bislang zurückgehalten, um sie erst in Anwesenheit ihres Mannes aufzudecken.
»Ausgezeichnet.« Gross strahlte sie an. »Das ist etwas, das wir bisher vollständig ignoriert haben, Mahlers frühe Jahre in Wien. Mein Kompliment, Frau … Meisner.«
Berthe errötete, und Werthen registrierte, dass Gross diesmal sogar ihren richtigen Namen benutzt hatte.
»Aber es gibt nicht nur schlechte Nachrichten«, sagte Gross. »Mit dem letzten Anschlag auf Mahlers Leben ergibt sich endlich ein psychologisches Profil unseres Täters. Ich gehe von einer eher romantischen Natur aus. Er ist hochempfindlich und mit einem sehr starken Drang von Verfolgungswahn ausgestattet. Ein jüngerer Mann, immer bereit zuzuschlagen – denken Sie an die skrupellose Ermordung des Herrn Gunther –, aber doch einer, der ausgeklügelte, wenn auch abstruse Pläne entwickelt, um Mahler zu beseitigen. Er beschreitet nie den direkten Weg. Wie einfältig, zur Pistole zu greifen, wie viel effizienter aber auch. Er könnte Mahler erschießen, und damit wäre die Sache erledigt. Aber nein, unser Mann denkt sich symbolischeAngriffspläne aus: Eine Feuervorhang fällt herunter, ein Dirigentenpult bricht zusammen, eine Fahrradbremse ist durchtrennt. So sehen die verschlungenen Strategien unseres Täters aus. Es ist überdeutlich, dass er eine besondere Verachtung für Mahler hegt, einen großen Groll. Er vollzieht einen Racheplan, er will Mahler nicht einfach nur töten. Wir kommen ihm immer näher. Ja, näher und näher.«
»Wie gut, dass wenigstens Sie daran glauben«, meinte Werthen.
»Du hast heute keinen sehr hungrigen Eindruck gemacht«, erklärte Werthen, als er mit Berthe zur Justizkanzlei ging.
An diesem Nachmittag herrschte hektischer Verkehr auf der Josefstädterstraße. Pferdekarren knarrten über Kopfsteinpflaster, und Straßenbahnwagen quietschten auf den Eisenschienen. Eiserne Fensterläden wurden nach der Mittagspause hochgezogen, Käufer hasteten emsig hin und her; ihre Weidenkörbe waren schon mit Obst und Brot gefüllt. Nach der kühlen Luft des Salzkammergutes behagte
Weitere Kostenlose Bücher