Wiener Requiem
der Tenor, als er seinen Panamahut von der Garderobe aus Hirschhorn zog. Franacek warf Wilhelm Tor fast zu Boden, als der in genau diesem Moment die Villa betrat, in dem Franacek aus dem Haus stürmte.
Für den Rest des Tages war Mahler völlig ruhelos, denn nachdem die Besucher endlich das Haus verlassen hatten, begann die Dorfkapelle zu spielen, und so war es undenkbar, dass Mahler an diesem Tag noch komponieren konnte. Tor verabschiedete sich umgehend, da er denselben Mittagszug erreichen wollte wie die anderen drei Herren.
Werthen hatte am Mittwoch eine unruhige Nacht verbracht, aber am nächsten Morgen endlich eine Entscheidung getroffen. Er würde nach Wien zurückkehren. Dies schien nun kein Risiko mehr zu sein. Gross hatte in einem Telegramm von seinem Besuch beim Prinzen Montenuovo berichtet, und so hatte Werthen erfahren, dass die Gendarmerie in Kürze seine Aufgabe übernehmen würde, Mahler zu bewachen.
Diese Nachricht wurde von Mahler nach all den zänkischen Gesprächen vom Vormittag natürlich nicht gut aufgenommen. Er wertete die Mitteilung Werthens als Verrat, und als Strafe folgte sogleich eine weitere, kräftezehrende Radtour.
Es wurde langsam nebelig. Werthen war so in seine Gedanken versunken, dass er die Veränderung des Wetters gar nicht bemerkt hatte. Der Sonnenschein war plötzlich hinter einem dunstigen Schleier verschwunden, der nun in einen dichten Nebel übergegangen war und die Kleider durchnässte.
Werthen beschleunigte seinen Gang, stieg aber nicht zurück aufs Rad. Er erwartete, dass Mahler schon bald die Talfahrt antreten würde.
Er hörte schwache Laute vor sich. Es klang wie eine Männerstimme, aber er war sich nicht ganz sicher. Es lag eine deutliche Spur von Panik darin. Werthen versuchte noch schneller zu gehen, es war allerdings lästig, sich so mit dem Rad an der Hand zu bewegen, denn es schlug ihm ständig an die Waden. Dann hörte er die Stimme plötzlich sehr genau.
»Hilfe! Hilfe!«
Es war Mahler.
Werthen ließ das Rad fallen und begann in die Richtung zu laufen, aus der die Stimme zu ihm drang. Er stolperte über einen großen Stein, der auf dem Weg lag, fiel auf Hände undKnie und zerkratzte sich seine Handflächen an einer freiliegenden Wurzel. Er sprang wieder auf die Füße und rannte weiter.
Endlich, als er um eine westliche Kurve der Serpentine lief, erblickte er Mahler oder besser gesagt, das Rad des Komponisten. Es war am äußersten Rand des Pfades um einen Baumstamm gewickelt und hing halb über einen Abgrund. Werthen arbeitete sich zum Fahrrad voran, und dann sah er Mahler. Er hing mehrere Meter unterhalb des Rades, klammerte sich mit verrutschter Brille an die Zweige eines Blaubeerbusches. Auf seinem Gesicht zeichnete sich Panik ab.
»Gott sei Dank, dass Sie endlich da sind, Werthen. Ich weiß nicht, wie viel länger ich mich noch halten kann.«
Werthen sagte nichts, sondern sondierte blitzschnell die Lage. Die Kante des Pfades war voller Geröll und bot keinen guten Halt. Unter Mahler ging es mehrere hundert Meter steil bergab; der Unfall hätte kaum an einer ungünstigeren Stelle passieren können.
»Stehen Sie doch nicht einfach rum! Helfen Sie mir!«
Werthen ging den Pfad wieder hinauf.
»Wo gehen Sie denn hin? Halt! Helfen Sie mir.«
Er war zu konzentriert, um Mahler zu antworten. Stattdessen ging er zurück zum Fahrrad und drückte es noch fester um den Stamm der Tanne. Er zog einige Male prüfend daran. Es hielt. Schnell knöpfte er seine ledernen Hosenträger ab, knüpfte die beiden Riemen mit einem festen Knoten zusammen und band dann das eine Ende an das Fahrrad. Er zog an diesem improvisierten Rettungsseil, um sicher zu sein, dass es halten würde. Dann ging er zu Mahler zurück.
Werthen schlug das lederne Ende der Hosenträger mehrfach um seine linke Hand, während er sich Zentimeter für Zentimeterzu dem Busch hinabließ, an dem sich Mahler festklammerte. Geröll löste sich unter seinen Füßen und fiel auf Mahler, aber jetzt hatte der Komponist erkannt, was Werthen vorhatte, und klammerte sich mit aller Macht an den Blaubeerbusch. Werthen sah, dass die Wurzeln des niedrigen Gebüschs bereits begannen, sich aus dem Grund zu lösen.
Langsam schob er sich weiter in die Richtung Mahlers und versuchte keine weiteren Steine loszutreten. Weil er vorsichtig vorgehen musste, war jeder Schritt qualvoll langsam. Dann kam er nicht weiter, weil die Reichweite der Hosenträger ausgenutzt war. Aber er hatte Mahler noch immer nicht ganz
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