Wiener Requiem
Arbeitsplan des Gemeindezentrums eingetragen war. Berthe meinte sich zu erinnern, dassEmmas Gatte in Wiener Studententagen ein Freund Mahlers gewesen sei und Emma deshalb eine Informationsquelle für diese Zeit Mahlers in Wien sein könne.
Emma, die Tochter eines jüdischen Eisenbahningenieurs, hatte den jungen Mediziner Viktor Adler, den Sohn eines reichen Geschäftsmannes aus Prag, 1878 geheiratet und im folgenden Jahr ihren gemeinsamen Sohn Friedrich zur Welt gebracht. Adler hatte mehrere Jahre als Arzt gearbeitet, bevor er seiner wirklichen Berufung folgte, dem
Internationalen Sozialismus
. Er war im innersten Kreis der sozialistischen Bewegung Österreichs tätig, war maßgeblich an der Einführung der Arbeiterparaden zum 1. Mai beteiligt gewesen und hatte sein beträchtliches persönliches Vermögen in die
Arbeiter Zeitung
eingebracht.
In den Büros dieser linken Zeitung hatten sich Berthe und Emma kennengelernt. Emma arbeitete als Journalistin und Übersetzerin, während Berthe dort verschiedene Artikel als freie Mitarbeiterin untergebracht hatte. Emma war sechzehn Jahre älter als Berthe und eine ausgesprochen gutaussehende Frau. Sie hatte für verschiedene Maler Modell gestanden. Eine gewisse Berühmtheit erreichte sie als Modell der heiligen Jungfrau Maria für ein Altarbild der Kirche in Attersee, dem Ferienort in einem Seengebiet, wo die Familie Adler ihre Urlaube verbrachte. Gern erzählte Emma die lustige Geschichte, die sich zutrug, als das fertige Bild in der Kirche aufgehängt wurde. Ein uriger alter Bauer hatte laut ausgerufen: »Aber das ist doch gar nicht die Mutter Gottes, das ist die Adler-Frau!« Zwei Jahre später war die Kirche nach einem Blitzschlag vollständig niedergebrannt, und das Einzige, was man hatte retten können, war eben dieses Bild gewesen. Seit jener Zeit wurde das Bildvon den Dorfbewohnern fast wie eine Reliquie verehrt, zu der man um ein Wunder betete.
Aber es gab da nichts Übernatürliches, nichts Märchenhaftes in Bezug auf Emma. Sie war eine der bodenständigsten Frauen, die Berthe kannte.
»Wir haben deine Mitarbeit in der letzten Zeit vermisst«, sagte Emma, nachdem sie die letzten Neuigkeiten ausgetauscht hatten und Berthe die Freudenbotschaft ihrer Schwangerschaft überbracht hatte. Während sie miteinander sprachen, fuhren sie damit fort, die Schulbücher in hölzerne Kisten zu verpacken.
»Ich helfe Karl jetzt mehr in seiner Kanzlei«, erklärte Berthe.
»Ich hoffe, das geht nicht zu Lasten deiner eigenen Karriere.«
»Nein, so ist es nicht«, versicherte Berthe, obwohl sie sich selber da nicht so ganz sicher war. »Ich erledige dort nicht nur Büroarbeiten. Karl hat sein Gebiet wieder um das Strafrecht erweitert und führt nun auch Ermittlungen durch.«
»Das war wohl zu erwarten.« Da Emma dieser Aussage nichts weiter hinzufügte, konnte Berthe nur vermuten, dass sie irgendwie von Karls Ermittlungen in dem Wiener Serienmörderfall des vergangenen Jahres gehört hatte.
»Und, gibt es zurzeit einen neuen wunderbaren Fall?«
Berthe hatte auf die Neugier ihrer Freundin gehofft.
»Mahler«, flüsterte Emma, als Berthe ihre Erzählung beendet hatte. »Er ist so ein seltsamer kleiner Mann.«
»Ja, das ist er wirklich, oder? Wenn ich mich recht erinnere, seid ihr einmal befreundet gewesen.«
»Nur Viktor. Ich selbst habe ihn nur einige Male getroffen. Aber Viktor steckte voller Geschichten über Mahler.« Emma lächelte. »Das ist natürlich alles eine Ewigkeit her. Damals warenwir junge Bohemiens. Es muss so um 1878 gewesen sein, als Viktor und ich uns kennenlernten. Er hatte gerade die Vegetarische Gesellschaft ins Leben gerufen, denn wir waren alle große Wagnerianer und teilten dessen Ansicht, dass Vegetarismus die Welt würde retten können. Wir wollten damals unbedingt die Welt retten, und zwar auf so direktem Wege wie möglich.« Sie schüttelte ihren Kopf in Gedanken und staubte ein weiteres Buch ab, bevor sie es zu den anderen legte. »Seit jener Zeit haben wir gelernt, dass die Welt in Wirklichkeit doch etwas komplizierter ist. Und manchmal scheint’s, als möchte sie gar nicht gerettet werden, diese ungezogene Welt.« Sie lachte matt.
»Ich hoffte, du selbst oder Viktor könnten mir etwas zu Mahlers Freunden von damals erzählen.«
»Aha, du sammelst also Verdächtige aus seiner Vergangenheit?«, folgerte Emma. »Aber da gibt es wirklich nicht viel zu erzählen. Sie haben sich immer in diesem schmuddeligen kleinen Kellerrestaurant Ecke
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