Wiener Requiem
habe ich durch Viktor seinen ganzen Freundeskreis kennengelernt, obwohl ich kaum behaupten möchte, auch nur einen von ihnen wirklich gekannt zu haben. Aber egal, diese Frau weiß auf jeden Fall über diese Jahre genau Bescheid. Sie kann dir bestimmt erklären, wo der Hund begraben liegt, wie man so sagt. Du solltest sie einmal zu dem Zerwürfnis zwischen Mahler und Wolf wegen eines gewissen Librettos befragen. Das ist der Stoff, aus dem die Tragödien und Komödien gewebt werden.«
»Und auch Wolf hat den Verstand verloren«, murmelte Berthe. »Scheint, als wäre das in dieser Zeit ein bisschen häufig vorgekommen.«
10. KAPITEL
Werthen saß neben Gross auf einem Stuhl im Büro von Kommissar Meindl im Polizeipräsidium, und ihn beschlich das eigenartige Gefühl eines Déjà-vu-Erlebnisses. Sie hatten bereits in einem anderen Fall mit diesem Mann zu tun gehabt. Werthen bemerkte, dass ein Ölgemälde an der Wand hinter dem Kommissar fehlte, bei ihrem letzten Besuch war es noch da gewesen. Nun hing dort nur noch das obligatorische, von dem mächtigen Backenbart umrahmte Gesicht des Kaisers. Früher hatten zwei Porträts die Wand geschmückt. Auf dem anderen Bild war der Mann zu sehen gewesen, den Werthen in einem Duell getötet hatte, der Mann, der ihn, Berthe und seine Nächsten bedroht hatte. Beim diesem Gedanken musste er einmal tief durchatmen.
Zu ihrer Überraschung war auch der adlernasige und hagere Kriminalinspektor Bernhard Drechsler zu dem Treffen eingeladen worden. Sie hatten die Vorladung per Telegramm am frühen Morgen bekommen.
»Es ist mir ein Vergnügen, meine Herren, Sie alle wieder hier begrüßen zu dürfen«, sagte Meindl. Sein Blick hinter dem Zwicker jedoch war allein auf Gross gerichtet. Meindl war gut gekleidet, sein leichter, anthrazitfarbener Anzug sah aus wie von Knize selbst geschneidert. Seine freundliche Anrede täuschte jedoch, er war überhaupt nicht erfreut. Gut rasiert und rotwangig saß er wie ein Cherub hinter seinem gewaltigen Tisch ausKirschholz. Ein ärgerlicher Cherub allerdings, seinem verkniffenen Mund nach zu urteilen.
Grund dazu hatte er wohl auch, jedenfalls nach Werthens Meinung. Immerhin war der Mann, mit dem er sich duelliert hatte, Meindls Beschützer gewesen, sein Mentor und Gönner. Seit dem Tod dieses mächtigen Mannes war Meindls Karriere ins Stocken geraten. Anfang des Jahres war die Beförderung zum Oberinspektor ausgeblieben. Aber Werthen hatte das Gefühl, dass es heute um sehr viel mehr ging.
»Wie es scheint, kommen Sie wieder einmal der Wiener Polizei zur Hilfe, geschätzte Kollegen.« Meindls Stimme troff förmlich vor Ironie. »Ich beziehe mich natürlich«, fuhr Meindl fort, »auf die Affäre Mahler. Prinz Montenuovo hat uns für die Sicherheit und Gesundheit des Direktors der Hofoper verantwortlich gemacht.«
»Ich fühlte mich verpflichtet, den Prinzen über unsere Untersuchung in Kenntnis zu setzen«, sagte Gross, um ihn zu besänftigen. Seine Worte zeigten jedoch keinerlei Wirkung.
»Selbstverständlich«, erwiderte Meindl mit gespitzten Lippen. »Es wäre jedoch außerordentlich freundlich von Ihnen gewesen, wenn Sie in Anbetracht unserer gemeinsamen Vergangenheit vorher zu mir gekommen wären.«
Werthen bemerkte, dass Gross unruhig auf seinem Stuhl hin und her rutschte. Der Kriminologe zählte nicht zu denen, die Dummköpfe leicht ertragen konnten.
»Ah. Und was hätten Sie dann unternommen, Herr Inspektor?«, erkundigte sich Gross. »Etwas anderes, als mir zu erzählen, dass der Tod von Fräulein Kaspar ein Unfall gewesen wäre und ich wiederkommen sollte, sobald es eindeutige Beweise für einen direkten Angriff auf Mahler gäbe?«
Oberkommissar Drechsler räusperte sich. Es klang wie ein ungewolltes Eingeständnis, dass zumindest er genau dies getan hätte, falls ihm die Informationen von Gross vorgelegt worden wären.
»Vermutlich hätte noch nicht einmal der Tod des unglücklichen Violinisten Friedrich Gunther ihr Interesse geweckt«, fuhr Gross unbeirrt fort.
»Das werden wir jetzt wohl nicht mehr herausfinden, nicht wahr?«, gab Meindl scharf zurück. »Aber wir wollen uns nicht gegenseitig beschuldigen. Schließlich liegt eine schwierige Aufgabe vor uns. Drechsler hat mich mit den bislang vorliegenden Fakten des Falles vertraut gemacht.«
»Betrifft das auch den Mordversuch auf Mahler in der letzten Woche?«, warf Werthen ein.
Meindls Blick blieb auf Gross fixiert, er ignorierte Werthen absichtlich. »Ja, wir haben von diesem
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