Wiener Requiem
sagte Werthen. Sie sah beide überrascht an. »Sie sind Sendboten Herrn Mahlers und wissen nicht, dass dieser kurzerhand ablehnte, das letzte und vielleicht größte Werk meines Mannes aufzuführen? Ein Ballett, das die Geschichte von Aschenbrödel verarbeitet. Johann hat die letzten Noten auf seinem Todeslager komponiert. Es war ihm ein Liebesdienst an der Musik gewesen, und es hat ihn viel Kraft gekostet, sich unter diesen Umständen darauf zu konzentrieren. Seine Seele war stark beunruhigt in diesen letzten Tagen, doch die Musik blieb ihm bis zu seinem Ende. Seine letzten Worte stammen aus dem bekannten Lied
Brüderlein fein
, das sein alter Musiklehrer, Joseph Drechsler, schrieb: ›Es muss geschieden sein.‹ Es war auch eine Höllenpein für meinen geliebten Johann, sich bis zum Ende seines Lebens ganz diesem Ballett zu widmen. Mahler besaß dann die Dreistigkeit, es eine Ansammlung ›asthmatischer Melodien‹ zu nennen.«
Werthen hob die Brauen bei diesem Ausdruck. Das klang wirklich sehr nach Mahler; er war tatsächlich sehr taktlos in seinen künstlerischen Urteilen.
»Wir sind nicht direkt die Sendboten Herrn Mahlers«, warf Werthen schnell ein und musste dabei ein wenig improvisieren. »Ich hätte eher sagen sollen, dass die Direktion der Hofoper uns sandte, um zu ermitteln, wie der Anerkennung von Herrn Strauß gebührend Ausdruck verliehen werden kann.«
Dies schien sie zu besänftigen, denn sie ließ einen Seufzer hören. »Nun, ich sage Ihnen gerne, was ich für eine angemessene Anerkennung halten würde. Eine Aufführung des
Aschenbrödels
. Ich vermute, dass auch das Dirigat der
Fledermaus
meinem geliebten Gatten zur Ehre gereichen sollte, aber man bedenke die Tragik, die daraus erwuchs.«
»Wie das?«, fragte nun Gross.
Sie wandte ihm ihre Aufmerksamkeit zu. Das Benehmen von Gross schien sie mehr zu schätzen, denn ihr verkniffener Mund entspannte sich etwas. Werthen überließ klugerweise dem Kriminologen die Gesprächsführung.
»Nun, damals hat er sich ja die schwere Erkältung zugezogen, nicht wahr? Am 22. Mai, Pfingstmontag. Ich hatte ihm ausdrücklich gesagt, er solle nicht in diesen eiskalten Schuppen von Oper gehen, denn das Wetter war wieder sehr rau geworden, wie so oft im späten Frühjahr. Am Ende habe ich nur noch verlangt, dass er zumindest lange Unterwäsche tragen sollte. Aber davon wollte mein Johann nichts hören. Er war ein sehr eitler Mann; er wollte eine gute Figur machen und trug seinen Frack. An jenem Tag wurde seine Gesundheit zerstört. Die Erkältung wurde zu einer Lungenentzündung und hat ihn keine zwei Wochen später dahingerafft.«
Bei diesen Worten weinte sie leicht und zog ein seidenes Taschentuch aus ihrem linken Ärmel, um sich die Nase zu tupfen.
Wie ganz Wien wusste auch Werthen von diesem tragischen Ende. Hier tat sich unerwartet eine ganz neue Verbindung zwischen diesem Tod und der Hofoper auf. Aber man würde hier wohl kaum nach einem Schuldigen suchen können. Niemand konnte einen Tod planen, an dessen Beginn eine schwere Erkältung stand.
Adele Strauß wandte sich plötzlich wieder Werthen zu. »Sie erwähnten doch, dass Sie Jurist seien, nicht wahr?«
Werthen nickte.
»Vielleicht können Sie mir in einer Angelegenheit einen Rat erteilen.«
»Ich bin sicher, dass die Kanzlei, die normalerweise für Sie tätig ist, Sie ausgezeichnet berät.«
»Das ist nichts als ein Club alter Weiber! Und hier geht es um etwas ganz Neues, etwas Revolutionäres, dass ich in Gang setzen möchte. Das Urheberrecht für Musikwerke beträgt derzeit nur dreißig Jahre. In meinen Augen ist dies völlig unangemessen. Ich möchte, dass das entsprechende Gesetz geändert wird und der Zeitraum auf fünfzig Jahre neu festgelegt wird. Ich bin schließlich noch eine junge Frau, und da der größte Anteil des Vermögens meines Mannes an die Gesellschaft der Musikfreunde geht, werde ich von den Tantiemen seiner Werke leben müssen.«
Werthen sah die kleine Frau an und empfand so etwas wie Respekt. Sie musste einen Kern aus Stahl besitzen, wenn sie sich so kurz nach dem Ableben ihres Mannes mit derlei Dingen beschäftigen konnte. Vielleicht erklärte dies auch ihre so merkwürdige Abwesenheit beim Begräbnis auf dem Zentralfriedhof: Sie spürte einfach kein Verlangen danach, sich öffentlich zu zeigen. Sie war seine Witwe, sie würde für die Bekanntheit seinesNamens auch im nächsten Jahrhundert sorgen. Es war ihre Pflicht. Werthen hegte keinen Zweifel, dass sie selbst Cosima
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