Wiener Schweigen
Rücken.
Die Sonne hatte den Wagen so aufgeheizt, dass der Fahrersitz brennend heiß war. Rosa fuhr langsam Richtung Ausfahrt. Als sie sicher war, außer Sichtweite zu sein, suchte sie hektisch in ihrer Tasche nach einem Notizbuch. In großen Buchstaben schrieb sie » R (b). O.S.A (l). E (u)« und »Gen. 16,1; Infer.« hinein. Ihre Hände zitterten. Paul hatte ihr eine Nachricht hinterlassen. Rosa war sich sicher, dass diese wenigen Buchstaben bedeutend waren.
Sie spürte erst jetzt, wie durstig und hungrig sie war, und hielt Ausschau nach einem Supermarkt, in dem sie etwas zu trinken und zu essen kaufen konnte. Ein leichtes Pochen in den Schläfen kündete Kopfschmerzen an. Bei einem kleinen Laden hielt sie und kaufte Wasser und eine Semmel. Danach blieb sie an die Wagentür gelehnt stehen und trank die halbe Flasche leer. Rosa hatte vor Jahren zu rauchen aufgehört, doch jetzt hätte sie alles für eine Zigarette gegeben. Sie wusste, dass sie mit ihren Recherchen über Paul eine Tür aufgestoßen hatte, und es würde sich zeigen, ob sie mit seinem Tod inzwischen abgeschlossen hatte oder nicht. Lustlos sah sie auf die Semmel, die aufgeweicht in Zellophan in ihrer Hand lag. Obwohl ihr Magen knurrte, konnte sie jetzt keinen Bissen davon essen. Sie warf sie durch das geöffnete Fenster auf den Beifahrersitz und stieg ein.
Gedanken schossen ihr wie Blitze durch den Kopf, als sie durch den 22. Bezirk Richtung Donauufer-Autobahn fuhr. War »Gen. 16,1;
Infer.« auch eine chemische Formel? Wen konnte sie fragen? Und falls es tatsächlich eine Nachricht für sie war, warum hatte Paul sie nicht einfach bei ihnen zu Hause hinterlassen? Dann hätte er sich auch keine Abkürzung einfallen lassen müssen.
Das Gebiet über der Donau war eindeutig nicht Rosas präferierte Gegend von Wien. Sich selbst überlassene Gruppen von Kindern spielten auf den Gehsteigen Fußball, während direkt an der Straße auf Parkbänken übergewichtige Wiener, im Unterleiberl und mit einer Dose Bier in der Hand, auf einen deftigen Rausch hinarbeiteten. Als sie bei einer roten Ampel hielt, konnte sie durch das offene Fenster einer Gruppe junger Muslime zuhören, die sich in einem Mischmasch aus tiefstem Wienerisch und Türkisch unterhielten.
Eine alte Frau in einem viel zu warmen Mantel, die zwei vollgestopfte Plastiksackerl trug, brüllte der Gruppe »Scheißtschuschn!« hinterher.
Die drehten sich lachend nach ihr um und quittierten das Gebrüll mit vulgären Gesten. Rosa rätselte bis zur Nordbrücke, was sie mit der ein oder anderen Handbewegung gemeint haben könnten.
Die heiße Luft waberte über den Autokolonnen, die sich träge aus der Stadt schoben. Rosa versuchte, sich an das Periodensystem zu erinnern. Sie wusste nicht mehr, wofür »Rb« stand, war sich jedoch sicher, dass »O« für Sauerstoff stand, »S« für Schwefel und »Al« für Aluminium, »Eu« fiel ihr wieder nicht ein. Sie kramte, während sie im Schritttempo durch den Stau fuhr, nach ihrem Mobiltelefon, um Johanna anzurufen. Die Allwissende konnte ihr sicher weiterhelfen. Doch das Telefon glitt ihr aus der Hand und rutschte unter den Beifahrersitz. Sie versuchte, es zu ertasten und gleichzeitig weiterzufahren, gab aber nach ein paar Verrenkungen wütend auf.
»Was hab ich in der verdammten Schule bloß gemacht?«, rief sie und schlug mit der Hand aufs Lenkrad.
Gerade als sie die Tür zu ihrem Haus aufsperrte, fuhr Johannas Wagen in ihre Auffahrt ein.
»Ich habe heute eine halbe Stunde auf dich gewartet«, rief ihre Freundin ihr noch aus dem Wagen zu, befreite sich umständlich von ihrem Sicherheitsgurt und stieg aus.
»Und das tust du sicher genauso tadellos, wie du alles tust«, meinte Rosa und hatte keine Ahnung, welches Treffen sie versäumt hatte.
»Wir wollten zum Reiterhof, um Stroh für die Dekoration des morgigen Sommerfestes im Flüchtlingsheim zu besorgen.«
Mist, dachte Rosa. »Tut mir leid, das habe ich total vergessen. Ich war heute bei der Bakk Pharm AG .«
Johanna blieb wie angewurzelt stehen und starrte sie an. »Was soll das heißen? Du bist dort einfach aufgekreuzt? Wenn du nicht so fertig aussehen würdest, würde ich dich jetzt fertigmachen. Was ist dir denn da eingefallen?«
»Komm rein, wir trinken etwas.« Rosa schob Johanna ins Haus.
Eine halbe Stunde später hatte sie ihr von dem Anruf Daniel Mühlböcks und von Pauls Unterlagen erzählt.
Rosa fuhr ihr Notebook hoch und ging ins Internet. Selbstverständlich wusste Johanna, dass
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