Wiener Schweigen
zu unterstützen, da Sie als eine seriöse Kunstwissenschaftlerin in den einschlägigen Kreisen bekannt sind.«
Rosa lächelte. »Ich bin beeindruckt, in welch kurzer Zeit Sie es geschafft haben, sich über mich zu informieren und die Unterlagen von Paul auszugraben.« Sie stand auf und griff nach ihrer Tasche. »Dann möchte ich Sie nicht länger aufhalten. Wo ist das Archiv?«
»Im Keller, ich bringe Sie hinunter.«
Als sie im Aufzug standen, fragte er: »Wohnen Sie in der Stadt?«
»Nein, ich wohne in einem kleinen Ort außerhalb, in Brunn. Direkt beim Sellnersee. Kennen Sie den?«
»Ja, bin dort schon ein paarmal vorbeigefahren, schöne Gegend. Ich nehme an, Sie sind durch das Schwimmen so braun?«
»Richtig, ich schwimme fast jeden Tag und habe noch dazu einen Garten, in dem ich sehr viel arbeite. – Ist das Projekt, an dem Paul für Sie gearbeitet hat, umgesetzt worden?«, wechselte sie das Thema und zupfte an ihrem Rock.
Er lächelte breit und hob kurz die Schultern.
»Ich verstehe«, sagte sie und zwinkerte, »zum Schutz der Mitarbeiter.«
Im Archiv wurden Mühlböck und Rosa von einem Sicherheitsmann in ein Extrazimmer gebracht, das durch eine Glasscheibe vom Büro des Wachpersonals getrennt war. Der einzige Ausgang führte durch dieses Büro. Man würde jede ihrer Bewegungen verfolgen können. Auf einem Tisch stand ein großer Karton.
»Sie dürfen die Unterlagen nicht kopieren und sich auch keine Notizen machen. Wenn Sie etwas finden, das für Sie von Bedeutung ist, können Sie es mir zeigen, und wir besprechen dann, ob ich Ihnen eine Kopie machen lasse. Ich muss Sie bitten, Ihre Handtasche bei unserem Sicherheitsbeauftragten Herrn Trauner zu lassen. Sobald Sie fertig sind, geben Sie ihm Bescheid. Ich muss jetzt in eine Besprechung.« Er deutete eine Verbeugung an. »Gutes Gelingen«, wünschte er und ging langsam zum Aufzug.
Sie sah ihm nach, sein geschmeidiger Gang erinnerte sie an ihre Katze.
Ein paar Minuten stand sie vor dem Karton und hatte Angst, ihn zu öffnen. Dann fasste sie sich ein Herz und hob vorsichtig den Deckel ab. Sie spürte, wie Herr Trauner sie von seinem Büro aus beobachtete.
Der Karton war bis zum Rand mit Papier gefüllt, auf dem sie Pauls Handschrift erkennen konnte. Sie hatte erwartet, Trauer zu verspüren, doch sie fühlte nur Taubheit. Mit einem Seufzer legte sie den ersten Stapel Papiere auf den Tisch und zog den Stuhl zu sich heran.
Vier Stunden später saß sie noch immer vor den Unterlagen. Es handelte sich seitenweise um Tabellen und Formeln, die sie nicht verstand. Die wenigen Sätze dazwischen waren kurze Notizen, die sich auf die Formeln bezogen.
Rosa war verzweifelt. »Hast du mir gar keine Nachricht hinterlassen?«, sagte sie ungläubig.
Paul hatte all seine Notizen mit Datum versehen, die Seiten jedoch nicht nummeriert. Sie hatte den Verdacht, dass man die Unterlagen nach seinem Tod durchsucht und danach einfach in den Karton geworfen hatte. Sie waren so durcheinandergekommen, dass es unmöglich schien, sie wieder zu ordnen. Noch dazu für Rosa, die kein Wort von dem begriff, was da geschrieben stand.
Sie hatte begonnen, die Seiten chronologisch zu sortieren, als sie plötzlich erstarrte. Das letzte Blatt war auf den 11. Oktober 2005 datiert, den Tag, an dem Paul gestorben war. Ihre Hände begannen zu zittern, sie suchte hektisch auf den anderen Blättern, ob sie vielleicht etwas übersehen hatte. An jenem Tag hatte Paul zu Hause arbeiten wollen. Rosa hatte sich am Morgen von ihm verabschiedet und war nach Wien gefahren. Das war das letzte Mal gewesen, dass sie ihn lebend gesehen hatte.
Das Telefon des Sicherheitsbeamten läutete und rief sie in die Gegenwart zurück. Während Herr Trauner sprach, ließ er Rosa nicht aus den Augen. Dann öffnete er die Tür. Herr Mühlböck wolle wissen, wie es ihr gehe und ob sie etwas brauche. Rosa bedankte sich, sie sei in einer halben Stunde fertig.
Sie nahm das Blatt vom 11. Oktober in die Hand und suchte fieberhaft nach einem Hinweis. Die Schrift war anders als auf den restlichen Blättern, fahrig und hektisch. Eine mehrfarbige Tabelle nahm die Hälfte des Blattes ein, sie war jedoch durchgestrichen worden. An ihrem rechten unteren Rand stand mit rotem Stift: »Gen. 16,1; Infer.« Paul hatte die Buchstaben und Zahlen öfter mit dem Kugelschreiber umrahmt und ein Kästchen gezeichnet. Rosa fuhr mit dem Finger darüber, starrte wie gebannt auf die Seite, die ihr so wichtig erschien. Die Zeichen und
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