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Wiener Schweigen

Wiener Schweigen

Titel: Wiener Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iris Strohschein
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Zahlen verschwammen ihr vor Anstrengung vor den Augen.
    Sie fuhr zusammen, als sie eine Entdeckung machte. Da Herr Trauner sie nicht aus den Augen ließ, lächelte sie ihn an und versuchte, einen ruhigen Eindruck zu machen. Während sie mit der linken Hand Blätter hochhob und hin und her schob, um den Sicherheitsbeamten abzulenken, starrte sie auf das Blatt vom 11. Oktober.
    Die Buchstaben und Zahlen in der durchgestrichenen Tabelle waren mit vier verschiedenen Farben geschrieben: Rot, Grün, Blau, Schwarz. Es war ihr nicht gleich aufgefallen, da Paul für seine Aufzeichnungen durchwegs diese Farben benutzt hatte.
    Die roten Buchstaben sprangen Rosa ins Auge. Sie führten wie ein Wegweiser von links oben nach rechts unten direkt auf das Kästchen mit der Abkürzung »Gen. 16,1; Infer.« zu und lauteten: » R (b). O.S.A (l). E (u)«. Rosa hatte sie von den anderen Zahlen und Abkürzungen aus dem Periodensystem nicht gleich unterscheiden können. Ihr fiel auf, dass der jeweils zweite Buchstabe von drei Elementen eingeklammert war. Ihre Erinnerung an das Periodensystem war zwar nicht mehr ganz frisch, aber sie wusste mit Sicherheit, dass »Al« für das Element Aluminium stand und dass der zweite Buchstabe nicht in Klammern geschrieben wurde. Ließ man die Buchstaben in den Klammern weg und setzte die roten, die direkt auf die Abkürzung »Gen. 16,1; Infer.« zuführten, zusammen, stand dort ihr Name. » ROSAE «.
    Als Chemiker daran gewöhnt, mit Abkürzungen zu arbeiten, hatte Paul sich selbst dann, wenn er Rosa eine Nachricht hinterlassen wollte, so kurz wie möglich gefasst. Außer bei ihrem Namen, den schrieb er immer aus. Wenn er sie zum Lachen bringen wollte, hatte er sich auch einer hochgestochenen Anrede bedient: »Liebste   ROSAE   mein«.
    Das Telefon des Sicherheitsbeamten läutete erneut, er nahm das Gespräch an und nickte. Rosa ahnte, dass Herr Trauner sie jetzt zum Gehen drängen würde. Sie ließ ihren Blick hektisch über die Seite gleiten, versuchte, sich so viel wie möglich einzuprägen. Herr Trauner legte auf. Rosa wühlte in den Papieren, die vor ihr lagen, vielleicht hatte sie etwas übersehen. Er ging um seinen Tisch herum auf sie zu. Sie stand schnell auf, wollte verhindern, dass irgendjemand ihre Entdeckung finden würde. Der Wachmann öffnete die Tür, Rosa legte die Papiere wieder in den Karton und verteilte die datierten Blätter so, dass niemand misstrauisch würde, sollte der Karton, nachdem sie gegangen war, untersucht werden. Das Blatt mit der Botschaft legte sie zuunterst in die Schachtel.
    Sie lächelte Herrn Trauner an. »Ich räum ein bisschen auf, damit Sie nicht so viel Arbeit haben.«
    Während Rosa zum Aufzug gebracht wurde, versuchte sie, ihre Nervosität mit einem belanglosen Gespräch über das Wetter zu kaschieren. Der Sicherheitsbeamte war sehr freundlich. Er wartete so lange, bis sich die Türen hinter ihr geschlossen hatten. Rosa war froh, allein zu sein, sie versuchte, sich zu beruhigen, und kaute gedankenverloren an ihren Lippen, ihre Kehle war so trocken wie Sandpapier. Als sich im Erdgeschoss der Fahrstuhl wieder öffnete, stand Herr Mühlböck vor ihr. Er hatte die Hände in den Hosentaschen vergraben und sah sie mit zur Seite geneigtem Kopf an.
    »Na, was gefunden?«
    Seine Oberlippe hob sich beim Lächeln leicht nach rechts oben, wie von einem unsichtbaren Faden gezogen.
    »Nein, es war ein Schuss ins Leere«, antwortete Rosa so unbefangen wie möglich. Sie hatte über vier Stunden über Pauls Schriften verbracht, und es war ihr dabei oft der Gedanke gekommen, dass diese Papiere das Letzte waren, was er berührt hatte. Es kostete sie viel Kraft, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr ihr diese Vorstellung zusetzte.
    Mühlböck inspizierte besorgt ihr Gesicht, Millimeter für Millimeter. »Sie sehen sehr erschöpft aus, ich hätte Ihnen wenigstens etwas zu trinken bringen lassen sollen. Verzeihen Sie, aber mir geht im Moment so viel durch den Kopf.«
    Rosa erwiderte seinen Blick und zuckte mit den Achseln. »Geht schon. Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe.«
    Sie gingen gemeinsam auf den Ausgang zu. Rosa empfand seine Gegenwart seltsamerweise als beruhigend, wahrscheinlich weil er sich um sie sorgte. Er hielt ihr die Tür auf und bot an, sie noch bis zu ihrem Auto zu begleiten. Rosa ging nicht auf das Angebot ein, sondern verabschiedete sich unter den üblichen Höflichkeitsfloskeln. Während sie zu ihrem Wagen ging, spürte sie Mühlböcks Blick in ihrem

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