Wiener Schweigen
erschien ihr unnatürlich laut, als sie darauf zuging. Durch den Temperaturwechsel bekam sie Gänsehaut auf den Beinen.
Sie hob den Blick und bemerkte an der hohen Decke halbe Glaskugeln, in die Kameras integriert waren. Nach einem ihr endlos scheinenden Fußmarsch stand sie endlich vor dem Marmorpodest und wurde sogleich von der maskenhaft lächelnden jungen Frau, die dort saß, zu einem Aufzug geschickt, mit dem sie in den sechsten Stock fuhr. Im Aufzug befand sich ebenfalls eine Kamera.
Als sich die Türen im sechsten Stock geräuschlos öffneten, wurde Rosa bereits von einer hochgewachsenen blonden Sekretärin erwartet, deren Lippenstift Ton in Ton mit ihrer zartrosafarbenen Bluse gehalten war. Sie gab Rosa die kühle Hand und führte sie durch mehrere Gänge aus Aluminium und Milchglas. Die wenigen Personen, die ihnen auf ihrem Weg zu Daniel Mühlböcks Büro begegneten, ließen Rosa zu dem Schluss kommen, dass in der Pharmaindustrie ausnahmslos Nachwuchsmodels arbeiteten. Auch hier waren überall Kameras montiert. Offensichtlich konnte man in der Bakk Pharm AG keinen Schritt unbeobachtet tun.
Rosa wurde von der Sekretärin in ein steriles Büro geführt, dessen Stirnseite aus rahmenlosen Fenstern bestand. Davor saß an einem riesigen Schreibtisch, auf dessen spiegelglatter Oberfläche nichts außer einem winzigen Notebook stand, ein circa vierzigjähriger, groß gewachsener Mann und hielt ein fast unsichtbares Mobiltelefon an sein Ohr. Rosa kam der Gedanke, dass sich Einfluss und Macht heute in der Größe der Mobiltelefone und Notebooks widerspiegelten, je kleiner, desto mehr Einfluss.
Als er Rosa sah, beendete er das Gespräch und stand auf. Die Sekretärin verabschiedete sich mit einem sphinxhaften Lächeln und verschwand. Rosa ließ ihre weiche Ledertasche auf einen Sessel fallen und streckte Herrn Mühlböck zur Begrüßung die Hand entgegen. Er hielt sie länger als nötig und sah ihr dabei in die Augen.
»Ich dachte schon, ich brauche meinen Pass, um zu Ihnen zu kommen, so lange war ich in diesem Gebäude unterwegs«, begann Rosa und befreite ihre Hand aus seinem Griff. »Noch ein paar Minuten, und ich hätte eine Jause gebraucht.«
Daniel Mühlböck lächelte. »Das ist reines Kalkül. Wir zermürben unsere Gäste, indem wir sie in diesem riesigen Gebäude einige Zeit hin und her laufen lassen. Wenn sie uns dann gegenübersitzen, sind sie vor lauter Erschöpfung Butter in unseren Händen.«
»Na ja, da sind Sie bei mir an der falschen Adresse, ich habe die körperliche Konstitution einer tibetanischen Bergziege.«
Er fuhr sich mit einer fast verlegenen Geste durch die dunklen Haare, von denen Rosa nicht hätte sagen können, ob sie schwarz gefärbt oder von Natur aus so dunkel waren. Sie setzten sich; Herr Mühlböck bot ihr etwas zu trinken an, was sie dankend ablehnte.
»Wie Sie sich sicher denken können, geben wir nicht so ohne Weiteres Auskunft über unsere Angestellten und über die Projekte, an denen sie arbeiten oder gearbeitet haben.« Er lehnte sich in seinem Sessel weit zurück und schlug die Beine übereinander. »Wir sind stets bemüht, mit unseren ehemaligen Kollegen guten Kontakt zu halten und sie und ihre Arbeit zu schützen.«
Herrje, was versucht der denn?, dachte Rosa. Als ob sie nicht wüsste, dass die Mitarbeiter nutzlos wurden, sobald sie ihre Forschungsprojekte abgeschlossen hatten, und dass es danach nur noch darum ging, sie recht eindrücklich an die Knebelverträge mit Schweigeklausel, die sie bei Eintritt unterschrieben hatten, zu erinnern.
»Sehr lobenswert«, sagte sie trocken. »Das heißt, Sie haben mich hierherbestellt, um Werbung für Ihre Firma zu machen und mir zu sagen, dass Sie mir keine Informationen geben können.«
Daniel Mühlböck hob kurz eine Augenbraue. »Ihr verstorbener Freund war ein wichtiger Teil unseres Unternehmens. Er wurde einem Projekt zugeteilt, bei dem es um genetisch verändertes Saatgut ging.«
Rosa überlegte kurz zu fragen, ob das Projekt durch die Fusion mit der Winter Upcom zustande gekommen war, entschied sich aber, Herrn Mühlböck reden zu lassen.
»Ich kann Ihnen natürlich keinen Einblick in seine Aufzeichnungen zu diesem Projekt geben. Aber wir haben noch einen Karton gefunden, in dem sich Unterlagen von ihm befinden, die uns unbedenklich erscheinen.«
Er stand auf und kam um den Tisch herum auf sie zu. »Er steht in unserem Archiv, Sie können ihn gern dort einsehen. Wir haben uns dazu entschieden, Ihr Buchprojekt
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