Wieviele Farben hat die Sehnsucht
Enea es sich gewünscht hatte. Trotzdem - oder vielleicht gerade deshalb -, nach einiger Zeit wurde Enea unzufrieden und böse. Sie brüllte Diener, Lakaien und Wachen an. Den Prinzen, von dem sie noch vor kurzem hingerissen war, demütigte sie und wollte ihn nicht mehr sehen - und sogar jetzt beteuerte er ihr immer noch, wie sehr er sie und nur sie liebe. Das Erdbeereis warf sie jeden Abend aus dem Fenster, und eines Nachts schlitzte sie sogar ihre Daunendecke auf. Schließlich erinnerte sich Enea an die Zauberin.
Als ein Jahr vergangen war, machte sie sich früh am Morgen auf zu jenem See im Wald. Am Ufer saß schon die Zauberin auf einem großen Stein und blickte ihr entgegen. „Du siehst nicht sehr zufrieden aus“, begrüßte sie das Mädchen und nahm deren Hand.
„Ich bin auch nicht zufrieden“, murmelte Enea.
„Fehlt irgend etwas in deinem Schloß? Habe ich etwas vergessen?“ Die Zauberin musterte sie aufmerksam.
„Nein, nein“, sagte Enea, „es ist alles, wie ich es mir gewünscht habe, nichts fehlt. Nur, ich bin wütend, ärgerlich und mißmutig und weiß nicht, warum! Kannst du mir helfen?“
Die Zauberin überlegte lange. Dann zog sie das Mädchen neben sich auf den Stein: „Es gibt vieles, was ich dir erfüllen kann. Aber es gibt auch einiges, das du dir selbst erfüllen mußt. Es gibt keinen Zauber, der die Unzufriedenheit aus deinem Herzen vertreibt und keinen geheimen Spruch, der Mißmut in Fröhlichkeit verwandeln könnte.“
„Dann ist mir also nicht zu helfen?“ flüsterte Enea traurig.
„Meine Hilfe kann ich dir schon anbieten“, erwiderte die Zauberin ernst, „aber ich kann dich nicht mit meinem Zauber zufrieden und fröhlich machen.“
„Wie willst du mir dann helfen?“ klagte Enea und sprang verzweifelt auf.
„Ich werde dir meinen Spiegel geben“, sagte die Zauberin und griff unter ihren weiten Umhang.
„Ist es ein Zauberspiegel?“ Hoffnungsvoll strahlte Enea die Zauberin an.
„So könnte man ihn vielleicht nennen.“ Jetzt lächelte die Zauberin wieder ein wenig.
„Was kann man darin sehen?“ Aufgeregt hüpfte Enea von einem Bein auf das andere.
„Du kannst dich darin sehen“, sagte die Zauberin.
„Ooch.“ Enea war sehr enttäuscht. „In meinem Schloß gibt es in jedem Zimmer goldene und silberne Spiegel. Jeden Tag kann ich mich darin sehen. Was soll an deinem Spiegel so besonders sein?“
„Sieh doch mal hinein“, lächelte die Zauberin und hielt ihr den Spiegel vors Gesicht. Enea erblickte darin das Gesicht eines kleinen Kindes. Die Augen waren trotzig zusammengekniffen, die Mundwinkel hingen mißmutig nach unten, und auf der Stirn zeigten sich böse, steile Falten. „Wer ist dieses Kind?“ Sie trat näher an den Spiegel, um genauer sehen zu können. „Warum schaut es so böse, trotzig und mißmutig?“
„Kennst du das Kind wirklich nicht?“ fragte die Zauberin verwundert. „Sieh es dir genau an!“
Lange schaute Enea. Dann zuckte sie plötzlich zurück. Sah wieder hin. Wandte sich ab und vergewisserte sich nochmals. Nachdem sie einen dicken Kloß hinuntergeschluckt hatte, flüsterte Enea: „Das bin ja ich. Dieses Kind bin ich! Aber so habe ich nie ausgesehen, als ich klein war — und trotzdem, das Kind im Spiegel bin ich!“
Die Zauberin nickte: „Ja, das bist du. Nicht, wie du als Kind warst. Nein, der Spiegel zeigt dir, wie du jetzt bist. Du stehst zwar hier als junge Frau in den Kleidern einer Königin. Der Spiegel läßt sich jedoch nicht betrügen. Er zeigt, wer du in Wirklichkeit bist. Ich schenke ihn dir. Auf das Schloß und all die anderen Sachen mußt du dann aber verzichten.“
Weil Enea sehr verzweifelt war, willigte sie ein. Und kaum hatte sie genickt, stand sie wieder in den alten, oftmals ausgebesserten Kleidern am See. Die Zauberin war verschwunden, und der Spiegel lag auf dem großen Stein. Nochmals nahm ihn Enea in die Hand. Auch jetzt sah sie darin wieder jenes kleine Kind, das sie war. Aber es schaute nicht mehr ganz so trotzig und mißmutig — und fast schien es Enea, als sei das Kind ein wenig gewachsen.
Einige Zeit lebte sie wieder in der alten Hütte. Dann fühlte sie sich dort jedoch sehr allein. Sie packte die wenigen Habseligkeiten zusammen, vergaß auch den Spiegel nicht und machte sich auf eine lange Reise. Enea erlebte viel, erfuhr Gutes und Schlechtes, fand Freunde, aber schaffte sich auch einige Feinde. Inzwischen wußte sie selbst am besten, was für sie gut und richtig war. Immer wieder schaute Enea
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