Wieviele Farben hat die Sehnsucht
wirkte sie recht jung, doch aus den Falten ihres Gesichts sprach auch die Weisheit vieler Generationen.
„Wie bist du denn in das Netz geraten?“ fragte Enea schließlich. Die Frau blickte sie lange prüfend an. „Ich bin eine Zauberin“, begann sie dann, „und die Gnome sind mir feindlich gesonnen. Sie haben diese Falle ausgelegt. Normalerweise können sie mich nicht festhalten, da mein Zauber mächtiger ist als ihrer. Deshalb haben sie auch Angst vor mir. Aber dieses verfluchte Netz wurde mit einem Bann belegt, den ich nicht brechen konnte. Ich werde in Zukunft vorsichtiger sein müssen.“
Enea runzelte die Stirn: „Es gibt keine Zauberinnen und schon gar keine Gnome. Das weiß doch jedes Kind.“ Wütend warf sie einen Kiesel in den See. „Warum erzählst du mir das?“
„Überall gibt es Gnome und Zauberinnen, aber auch Hexen und Magier. Man muß sie nur sehen wollen. Ich hab dir versprochen, alle deine Wünsche zu erfüllen. Was willst du denn jetzt am liebsten?“
Enea brauchte nicht lange zu überlegen. „Jetzt will ich gerade ein Erdbeereis und einen süßen Tee aus Hibiskus“, sagte sie sofort.
Die Zauberin legte die Hände vor der Nasenspitze zusammen, auf ihrer Stirn zeigten sich drei Falten, und vielleicht wackelte sie auch ein wenig mit den Ohren. Auf jeden Fall standen plötzlich die gewünschten Dinge vor dem Mädchen. Das rot leuchtende Erdbeereis war sogar noch mit einem dicken Klecks schneeweißer Sahne verziert. Enea blieb der Mund offenstehen. Sie konnte nicht einmal „ooh“ oder „aah“ sagen. Auch der Kiesel, den sie gerade noch in den See schleudern wollte, lag vergessen in der Hand. „Das gibt es nicht“, stammelte sie fassungslos, „das gibt es einfach nicht! Wie hast du das gemacht?“
„Ich hab doch gesagt, daß ich eine Zauberin bin!“
Enea bekam große, kugelrunde Augen. „Du kannst mir wirklich alle meine Wünsche erfüllen?“
„Ich habe es versprochen“, sagte die Zauberin und lächelte ein klitzekleines Lächeln, in dem sich der frühlingsgrüne See spiegelte.
„Ich will ein Schloß. Ganz für mich. Weißt du, ich lebe in einer kleinen, schäbigen Hütte. Und dann will ich Diener, die mir jeden Wunsch von den Augen ablesen. Und ein Pferd, einen Hund und viel Geld. Und einen jungen Prinzen, der nur mich liebt. Und jeden Abend Erdbeereis, und ein weiches Daunenbett, und daß jeden Tag die Sonne scheint, und, und, und...“ — Enea war so aufgeregt, daß sie sich verhaspelte und verschluckte.
Die Zauberin schaute das Mädchen ernst an: „Ich habe es versprochen. Dann soll es auch so sein. Alle deine Wünsche haben sich erfüllt. In jedem Jahr werde ich gerade an diesem Tag hier am See sein und auf dich warten.“ Daraufhin legte die Zauberin wieder ihre Hände vor die Nasenspitze, auf der Stirn erschienen die drei Falten, sie murmelte einige Worte in einer fremden Sprache und war plötzlich verschwenden.
Enea war allein und blickte sich um. Die Bäume rauschten leise im Spätnachmittagswind, der See kräuselte sich still und brummelte seine Weisheit an die Uferkiesel. Ihr wurde unheimlich. Schnell erhob sie sich und hastete zu ihrer Hütte zurück. Als sie unter den letzten Bäumen hervortrat, schloß sie vor Schreck die Augen und kniff sich kräftig in den Arm. Vorsichtig blinzelte sie nach kurzer Zeit wieder unter den Wimpern hervor. Was sie sah, verschlug ihr den Atem: Es gab keine Hütte mehr. Wo sie früher gewohnt hatte, erhob sich nun ein großes Schloß.
Zögernd ging sie weiter. Die Wachen präsentierten die Lanzen, daß der Steinboden dröhnte. Ehrfurchtsvoll und gleichzeitig gebieterisch riefen sie dann: „Die Königin kommt! Seid bereit!“
Sofort strömten auf geheimnisvolle Weise Diener und Lakaien herbei, verbeugten sich tief und lasen dem Mädchen jeden Wunsch von den Augen ab. Alles war wirklich so, wie es sich Enea gewünscht hatte. Das Erdbeereis am Abend war verlockend sahnig, das Daunenbett prall gefüllt und warm. Und der junge Prinz übertraf alle ihre Erwartungen. Kein Wunsch, den er ihr nicht schon erfüllt hätte, noch bevor sie ihn aussprach, kein Tag, an dem er ihr nicht beteuerte, daß er sie und nur sie liebe, keine Stunde, in der er ihr widersprach oder zürnte.
Eigentlich könnte die Geschichte hier enden, und vielleicht wäre es ein schönes Märchen für Enea geworden, aber —, es kam alles ganz anders.
Nein, nicht daß jemand denkt, die Zauberin hätte nicht Wort gehalten. Es war und blieb alles genauso, wie
Weitere Kostenlose Bücher