Wikingerfeuer
die Klingenspitze gegen die Hüfte des Mannes. »Gib mir mein Geld zurück«, sagte sie ruhig. »Oder du wirst diesen Tag nie vergessen.«
»Bei allen Heiligen, steck den Dolch weg«, murmelte er. Seinem überraschten Gesicht war abzulesen, dass er sich schuldig fühlte.
»Den hast du wohl übersehen. Los, mach schon, sonst …«
»Einen Penny für den Gesang der schönen Anne!«, schrie der Junge und rasselte vor Rúnas Gesicht mit seiner gut gefüllten Mütze. Er beugte sich weit über den Tisch. Seine Augen weiteten sich. »Die Frau hat einen Dolch!«
Er schrillte so laut, dass es in Rúnas Ohren klingelte. Was dann geschah, vermochte sie kaum zu begreifen: Der Dieb brüllte, sie wolle die Zeche prellen; zwei Männer zerrten den Tisch beiseite, wohl um sich vom Vorhandensein des Dolches zu überzeugen. Rúna bereute, ausgerechnet den Sarazenendolch mitgenommen zu haben, denn sein Wert stach ihnen sofort ins Auge. Ein von oben bis unten mit Fettspritzern und Blutflecken übersäter Mann, wohl der Wirt, kam brüllend angelaufen. Der Junge musste sich gegen jemanden wehren, der die Mütze an sich reißen wollte, und plötzlich herrschte in diesem überfüllten Wirtshaus ein heilloses Durcheinander. Rúna verabschiedete sich im Stillen fluchend von ihrem Geld, sprang auf einen Tisch und von dort in Richtung des Ausgangs. Hände schnappten nach ihr, aber sie wich ihnen geschickt aus. Nah an der Tür sprang sie herunter. Ein Mann wollte sich auf sie stürzen und ließ sich auch nicht von ihrem drohend gezückten Dolch abschrecken. Einen Herzschlag später zierte seine Wange eine blutige Linie.
»Zur Hölle mit dir, du Teufelsweib!«, brüllte er.
Rúna rannte hinaus. Bald hatte das Gewimmel des Marktes sie verschluckt.
Mochten sie alle in Niflheim erfrieren! Wütend schlug sie gegen eine Hauswand.
Wenigstens hatte Yngvarr nichts von dieser unrühmlichen Geschichte mitbekommen.
Sie fand ihn nicht. Nicht am Stadttor, das sie als Treffpunkt ausgemacht hatten. Nicht im Markt. Nicht in den umliegenden Straßen.
Nun gut. Rúna schlenderte vorsichtig umher und beobachtete die vorüberkommenden Leute, ob vielleicht ein Wirtshausbesucher unter ihnen war, der sie wiedererkennen und deshalb lautes Geschrei machen würde. Sie entdeckte das Musikantenpärchen – auf dem Marktplatz, doch weder der Dicke noch die Frau sahen sie und schrien daher auch nicht nach den Gerüsteten, die hier überall paarweise herumliefen und hier und da eingriffen, wenn Streit ausbrach. Längst knurrte ihr wieder der Magen. Nun, die Sonne stand tief; bald würde sie zum Lager zurückkehren. Dort wartete zwar nichts frisch Gebratenes, aber wenigstens Dörrfisch, Schafskäse und Brot.
Ihr Streifzug führte sie auch in Richtung der Burg von Ian MacCallum, Athelnas Vater. Hoch auf einem Hügel thronte sie über der Stadt. Ein schmaler, von Mauern gesäumter Weg führte hinauf, und an seinem Anfang war ein gut bewachtes Tor. Dann gab es noch einen Kirchturm, der die anderen Gebäude überragte, aber trotzdem eher unscheinbar wirkte.
Rúna gelangte durch ein paar verwinkelte Gassen wieder auf den Marktplatz und fand sich plötzlich fast unmittelbar vor dem Wirtshaus wieder. Sie zögerte, unsicher, ob sie besser kehrt machen oder einfach vorbei gehen sollte. Ein alter Mann, der zuvor bereits in der Nähe an einer Hauswand gehockt und gebettelt hatte, betrachtete sie stirnrunzelnd. Falls er sie erkannte, beschloss er, zu schweigen. Sie nickte ihm dankbar zu und bedauerte, ihm keine Münze geben zu können.
Ein feister Mönch trottete an ihr vorbei. Er zog einen Karren, den er vor die Tür des Wirtshauses schob. Statt einzutreten, wie es jeder tat, klopfte er. Der Wirt öffnete, anscheinend hatte er den Mönch schon erwartet. Rúna senkte den Kopf, doch niemand achtete auf sie. Sie zog sich in den Schatten einer Hauswand zurück und beobachtete das Treiben. Der Wirt kehrte bald mit einem Stapel soßendurchtränkter Brotfladen zurück zur Tür. Dreimal musste er laufen, bis der Karren mit der Armenspeise gefüllt war. Dann drehte der Mönch das wacklige Gefährt und machte sich schnaufend auf den Rückweg.
Das Kloster hatte sich Rúna bereits von außen angesehen; es war ihr erstes Ziel gewesen, als sie die Stadt betreten hatte. Aber wie ging es vor sich, wenn dieses Brot an Bedürftige verteilt wurde? Lud man sie ins Innere ein? Sie beschloss, es herauszufinden. Vielleicht wusste man ja im Kloster, wo der Earl von Eastfield den Mörder versteckt
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