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Wild (German Edition)

Wild (German Edition)

Titel: Wild (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Klassen
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in meiner grauen Wolke. Jetzt bin ich geschickt wie sonstwas. Ich finde inzwischen mehr Wurzeln als du.«
    Ich hatte mir oft Gedanken über die Wildnis gemacht, aber was ich nie erwartet hätte, war die stundenlange Arbeit. Es kostete unendlich viel Zeit, sich Tag für Tag um das Essen zu kümmern. Wurzeln sammeln war nicht besonders schwierig, wenn man die entsprechenden krautigen Pflanzen erst mal von dem übrigen Grünzeug unterscheiden konnte, doch für so viele Menschen musste es mehr sein als eine Handvoll. Jeska und ich suchten das Seeufer ab, wir rissen und gruben. Wir streiften die Erde von den länglichen weißen Wurzeln, die intensiv dufteten; im Zweifelsfall erkannte man daran die richtigen. Meine Fingernägel waren so schwarz, dass ich sie auch mit gründlichem Schrubben nicht mehr sauber bekam. Auf meinen eiskalten Händen wuchsen schmerzhafte Blasen, und während Jeska immer noch munter plapperte, versuchte ich meine klammen Finger zu biegen.
    »Reicht das nicht endlich?«
    »Stell dich nicht so an, Pia. Für uns würde es reichen, aber Mama tauscht Wurzeln gegen Fleisch, und wir brauchen noch Stiefel für dich, für den Winter.«
    »Haselnüsse müssen wir auch noch sammeln«, sagte ich wütend. Das hatte Ricarda uns heute Morgen gleich als Erstes aufgetragen.
    »Das geht schnell«, meinte Jeska munter. »Ich kenne einen Strauch, ganz nah bei unserem Zelt. Den hat noch keiner von unseren Nachbarn entdeckt. Da müssen wir gar nicht lange suchen.«
    »Kann Benni uns nicht wenigstens dabei helfen?« Sofort biss ich mir auf die Lippen. Wir sprachen nie über Bennis Defizite, das war wie ein ungeschriebenes Gesetz. Abwechselnd brachten wir ihm zu essen. Manchmal aß er alleine, oft musste man ihn füttern. Er saß nur im Zelt und spielte mit seinen Hölzchen.
    Jeska antwortete nicht. Ich blickte hoch und sah eine Träne über ihre Wange rinnen, klein und rund und glänzend, und auf einmal war ich wieder in der Aula und schaute Moons ergreifendem Julia-Tod zu. Oh Romeo!
    Ich musste schlucken. Wie hatten wir uns damals amüsiert. Wir waren so ahnungslos gewesen.
    »Tut mir leid«, flüsterte ich, ich streckte meine Hand aus und legte sie ihr auf den Arm. »Tut mir echt leid.«
    »Es ist schon vier Jahre her«, sagte Jeska, ohne mich anzusehen. Sie starrte auf die Wurzeln in ihrer Hand, mit dem Daumen rieb sie die Erdklümpchen weg. »Wir sind zusammen geflohen, als die Jäger kamen. Unsere Eltern, Benni und ich und Siria, unser Baby. Wir haben uns versteckt, aber Siria hat geweint, und meine Mutter hat ihr den Mund zugehalten, bis sie blau angelaufen ist.«
    Ich sah es vor mir, denn ich hatte es schon selbst erlebt. Wie sie im Gebüsch kauerten, aneinandergedrängt, so wie ich und Gabriel vor ein paar Wochen. Und die dunkel gekleidete Gestalt, die vorbeiging und dann stehen blieb …
    »Er hat euch trotzdem gefunden?«, fragte ich schließlich, da Jeska nicht weiterredete.
    Vielleicht hatte das Baby gehustet. Sie dachten, der Jäger sei weitergegangen, aber er war noch da, er hörte selbst das kleinste Geräusch.
    »Nein«, sagte Jeska schroff. »Er war weg. Aber meine kleine Schwester war tot.«
    Mein Herz verkrampfte sich. Das erklärte jedoch nicht, wie Benni und Jeska ihre Eltern verloren hatten.
    »Meine Mutter hat es nicht verkraftet. Sie hat sich umgebracht, ein halbes Jahr später. Und mein Vater wollte kämpfen, weißt du, er dachte, er könnte nicht weiterleben, ohne sich zu rächen. Was aus uns wird, darüber hat er nicht nachgedacht. Er hat gesagt, er tut es für uns, aber das war gelogen. Von Rache wird man nicht satt. Von Rache hat man kein Zelt und kein Feuer und niemanden, der einem die Sachen flickt.«
    Ihre Augen waren viel älter als dreizehn, vierzehn Jahre. Schnell schaute ich wieder weg.
    »Ein Jäger hat mich gefunden, weil ich mich nicht gut genug versteckt hatte. Er hat … Dinge getan und Dinge gesagt, und dann hat er auf mich angelegt, und ich wusste, dass ich gleich sterbe, und es war mir egal. Ich war bereit zu sterben. Er wusste, dass es mir egal war. Und so muss es auch sein, denn solche wie wir, bei uns ist es gleich, ob wir leben oder sterben. Er hat gesagt, wir seien keine richtigen Menschen, wir seien bloß Wild. Dann hat er auf mich angelegt und mir in den Bauch geschossen, aber ich war nicht tot. Ich habe nur dagelegen und darauf gewartet, dass ich sterbe. Der Jäger wollte ein zweites Mal schießen, aber es ist keine Kugel mehr aus seinem Gewehr gekommen. Glück gehabt,

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