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Wild (German Edition)

Wild (German Edition)

Titel: Wild (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Klassen
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auf ihn aufgeben werden. Finde die richtigen Worte. Er mag unglaublich stark sein, aber seine Seele ist so verletzlich wie jede andere. Und du bist die Frau, die ihn liebt.«
    Der Nebel hatte sich aufgelöst. Goldene Strahlen fielen durch die Baumwipfel und erinnerten mich an das Flutlicht hinter dem Zaun, den Suchstrahl, der über das unwegsame Sumpfgelände hinwegglitt.
    Meine Gedanken wirbelten davon, während meine Gefühle wild tanzten, sich überschlugen und verhedderten. Wütend stapfte ich über weiches Moos und knorrige Wurzeln. Zweige hingen mir ins Gesicht, krallten sich in meinen Haaren fest, an meiner Schulter, Blätter streiften meine Stirn wie eine zärtliche Berührung. Ein paar Enten stoben davon, als ich den See erreichte. Vor mir lag der Uferbereich. Schilf. Braune Rohrkolben standen Wache. Über der Wasseroberfläche hingen die letzten Nebelfetzen, und darüber breitete sich der Himmel aus, klar und blau und unendlich.
    Niemand war hier.
    Ich zwang mich zu atmen. Irgendetwas platschte, aber ich ließ mich nicht ablenken. Atmen. Ein und aus, ein und aus. Mein Herz klopfte immer noch wie wild, es tat mir weh, es raste, es hüpfte, es schrie: Du bist ein normales Kind. Du. Lucky auch. Jupiter, garantiert. Oder nicht? Hatten sie ihn aus der Schublade »Netter Junge, hochwertiger IQ, optische Beeinträchtigungen«?
    »Hey, kleine Erbse, was ist los?«
    Ich hatte Orion gar nicht gesehen. Er hockte in einer Astgabel, zwei Meter über dem Boden, die Armbrust bereit. Dabei war ich fast über seine Krücken gestolpert, die wie fremdartige Schilfhalme zwischen den Wurzeln feststeckten.
    »Hast du mich erschreckt«, sagte ich.
    »Dafür hast du die Enten verjagt. Ich schätze, ich hab eine erwischt, aber ich habe nicht genau gesehen, wo sie runtergefallen ist. Dahinten im Schilf, glaube ich.« Er kletterte behände vom Ast, indem er sich mit beiden Händen festhielt und mit dem gesunden Bein abstützte. Auch verletzt konnte er klettern wie ein Weltmeister.
    »Hey, was ist?«, fragte er, während er nach seinen Krücken angelte. »Sag mir, wer dich zum Weinen gebracht hat, und ich sorge dafür, dass er es bereut.«
    »Alfred.«
    »Ach, der. Hm. Den würde ich eigentlich lieber nicht verprügeln.«
    »Musst du auch nicht«, sagte ich leise. »Ach, Orion …«
    Seine Augen waren grün wie ein Sommerwald. Kluge, scharfe Augen, die sehr viel sahen. Nicht die Augen eines Mörders.
    Den Charakter kann man nicht klonen, hatte Alfred gesagt.
    »Es ist meinetwegen, stimmt’s?«, stellte er fest. »Das Gewehr. Das Ziel. Und dieses lästige Gerede darüber, ich sei ein Soldat. Hat Gabriel dich geschickt, um mich endlich aufzuklären?«
    Ich nickte. »Ja, so in etwa.«
    »Ich hab schon überlegt, ob ich einen von ihnen packen und die Wahrheit aus ihm herausschütteln soll. Das ist dann ja wohl nicht nötig.« Er hüpfte ein paar Meter weiter, zu einem Baum, dessen unterster Ast eine bequeme Sitzgelegenheit bot. »Hier, machen wir es uns wenigstens gemütlich. Und danach holen wir die Ente.«
    Er wartete. Ich setzte mich nicht neben ihn. Unschlüssig stand ich herum. Ich konnte nicht anders, als ihn zu betrachten. Er war mir ans Herz gewachsen, ich hätte ihm gar nicht sagen können, wie sehr. Um nichts in der Welt wollte ich ihm wehtun.
    »Ich schätze, es stimmt«, sagte er. »Die Sache mit dem Soldaten, meine ich. Als ich das Gewehr in der Hand hielt … es hat sich angefühlt, als sei es ein Teil meines Arms, ein Teil von mir. Als hätte ich mein Leben lang darauf gewartet, dass mir jemand eine Waffe in die Hand legt. Ich hab auch schon in Neustadt gemerkt, dass mit mir nicht alles so ist wie bei anderen. Ich kann weiter sehen. Auch bei Dämmerung. Der Nebel hat mich gar nicht gestört. Wenn ich mich konzentriere, verschwindet alles, was meine Sinne behindert. Das beißt sich mit dem, was uns unsere Lehrer beigebracht haben, nicht wahr? Warum sollte der neue Mensch gut kämpfen können, wenn es doch keine Aggressionen mehr gibt?«
    »Es steckt noch ein bisschen mehr dahinter«, sagte ich.
    Er wartete.
    Ich zögerte. Nun, ich war ja auch nicht auf Mut, Entschlossenheit und Strategie hin gezüchtet worden.
    »Du brauchst kein Mitleid mit mir zu haben, Pi. Spuck’s aus. Ich werde es schon verkraften. Setz dich endlich.«
    Ich ließ mich auf dem Ast nieder, neben ihn. Dann brauchte ich ihn wenigstens nicht anzusehen.
    Also erzählte ich es ihm. Alles, was Alfred mir anvertraut hatte. Ich ließ nichts aus. Er stellte ein

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