Wild (German Edition)
müssen wir mit einem vermehrten Auftreten von Jägern rechnen, egal, ob wir sie angreifen oder nicht. Paulus wird rasen, aber wir haben keine Wahl. Die Regs selbst zwingen uns zu kämpfen.«
»Woher weißt du das alles?«, fragte ich. »Du sitzt hier in der Wildnis. Wie kannst du das alles wissen?«
Diesmal war sein Lächeln voller Wehmut. Gedankenverloren starrte er in seine Tasse. »Ich bin auch aus Neustadt, so wie du«, sagte er. »Ich habe dort Medizin studiert. Ich habe unzählige Kinder eingepflanzt. Alles ging gut, bis mir aufgefallen ist, dass es immer mehr Soldaten sind, die wir in die Öffentlichkeit entlassen. Dann habe ich die Archive entdeckt und die Wahrheit herausgefunden, die ich nie hätte wissen dürfen. Sie haben mich geschnappt, vors Tor gesetzt und die Jagd auf mich eröffnet. Ich bin bloß Arzt. Sie dachten, sie hätten leichtes Spiel mit mir, aber ich bin zäher, als ich aussehe.«
Sollte ich das wirklich glauben? »Die Glücksgabe hätte verhindert, dass es dich besonders kümmert.«
»Ab einer bestimmten Stufe bekommen die Laborärzte keine gefühlsmindernde Dröhnung mehr. Und ich war, mit Verlaub, ziemlich weit oben. In unserem Mittel sind nur Substanzen enthalten, die die Konzentration fördern, und auch das kann man umgehen, wenn man es darauf anlegt.«
»Mein Vater arbeitet im Bio-Institut in Bezirk Vier«, sagte ich. »Heißt das, er bekommt auch nichts? Er ist bei klarem Verstand?«
»Im Bio-Institut?« Alfred sah aus, als würde er gleich in Ohnmacht fallen. »Er arbeitet mit Krankheitserregern?«
»Ja, wieso?«
Er schluckte. »Später«, sagte er, mehr zu sich selbst als zu mir. »Eins nach dem anderen. Kümmern wir uns zuerst um den jungen Soldaten. Ich habe mit Gabriel darüber gesprochen. Wir halten es für das Beste, wenn du es Orion schonend beibringst.«
Ich hatte keine große Lust, irgendjemandem zu erzählen, dass er nicht das richtige Kind seiner Eltern war.
»Bitte«, sagte Alfred eindringlich. »Es ist wichtig. Wenn die Männer glauben, dass er ein Siebenundneunziger ist … Wie er es erfährt, kann entscheidend sein.«
»Entscheidend wofür?«
Er musterte mich streng. »Man muss kein mathematisches Genie sein, um die Wahl zu sehen, die vor Orion liegt: für wen er kämpfen wird.«
»Warum sollte er gegen euch kämpfen?«, fragte ich. »Wir sind hier gut aufgenommen worden bei euch. Und Neustadt hat uns gejagt. Neustadt hat ihn angeschossen.«
»Wie gesagt, den Charakter kann man nicht klonen«, sagte Alfred. »Und auch nicht die Entscheidungen, die ein Mensch trifft. Ein Soldat aus dieser Serie kann sich über eine Kleinigkeit so ärgern, dass er zum tödlichen Feind wird. Er hat die Fähigkeit zu hassen, wie du sie dir nicht vorstellen kannst. Paulus war der Meinung, dass wir es nicht riskieren können, Orion überhaupt hier aufzunehmen. Dass er einen Krieg gegen die Regs anzetteln könnte, der die Jäger dazu bringen würde, uns alle auszulöschen. Paulus’ Devise ist klar: Keine Gewalt gegen die Jäger.«
Jetzt verstand ich, warum Paulus Orion so gerne wieder weggeschickt hätte. Er war eine Bedrohung für die Sicherheit des Lagers – und dazu wahrscheinlich aller Gruppen ringsum. Und Gabriel und seine Freunde hatten ihm ein Gewehr in die Hände gelegt.
»Ich habe Paulus gesagt, dass das kriegerische Potential eines jungen Soldaten nicht in Erscheinung treten wird, wenn er sich mit der Pflege von Kranken beschäftigt. Gewalt weckt seine Aggressionen, also müssen wir ihn davon fernhalten.«
»Wirklich?«, fragte ich ungläubig. »Es scheint mir unmöglich, irgendjemanden hier in der Wildnis von Gewalt fernzuhalten.«
»Es war die einzige Möglichkeit, um Paulus umzustimmen. Eine … Notlüge, sozusagen.«
»Es stimmt also gar nicht?«
»Nein«, sagte Alfred. »Nicht Gewalt weckt seine Fähigkeiten auf. Schmerz. Es ist Schmerz, Pia. Du und ich wissen, was Orion in den letzten Wochen durchgemacht hat.«
»Paulus befürchtet also unseren Untergang«, sagte ich leise. »Und du? Warum lügst du für uns?«
»Jetzt habe ich zwei Söhne«, erklärte Alfred bestimmt, »auch wenn Paulus Anspruch auf den einen erhebt und den anderen fürchtet.« Sehr sanft fügte er hinzu: »Ich hoffe, durch ihren Kampf werden sie die Regs das Fürchten lehren. Ich hoffe, sie beide werden uns retten.« Er seufzte. »Orion ist jetzt mein Sohn. Gerade deshalb solltest du ihm sagen, was es mit seinen früheren Eltern auf sich hat. Und warum die Regs nie im Leben die Jagd
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