Wild (German Edition)
Hast du Lust, dir die Katze anzusehen?«, fragte er.
»Ich … ich kann nicht. Das Blut … Ich glaube, mir wird übel.«
Das musste als Erklärung reichen. In Panik ließ ich die Tücher fallen, taumelte nach draußen und floh.
27.
Nachts kam die Wahrheit zu mir. Nachts war Lucky da. Er streckte die Arme nach mir aus und rief meinen Namen. »Renn!«, schrie er mir zu, während die Wachen ihn wegschleiften. Manchmal entschied ich mich in diesen Träumen anders, ich rannte nicht mit Orion durchs Tor, sondern kehrte zu Lucky zurück. Ich lief zu ihm und Moon, um zu kämpfen, aber dann siegte die Angst und ich konnte mich nicht rühren und musste hilflos mit ansehen, wie die Männer ihn trotzdem wegbrachten und sich danach mir zuwandten, während Moon im Hintergrund lächelte. Ich träumte nicht, was mit mir geschehen würde. So viel zeigten mir die Träume nie, denn weder mein Herz noch mein Verstand wussten es sicher. »Es wäre alles geworden wie früher«, wisperten die Gedanken, doch mein Herz widersprach. »Moon hasst dich. Lucky liebt dich. Wie kannst du wissen, was geschehen wäre?«
Wieder und wieder brachte mich der Traum an diesen Punkt, warf mich in die Nacht unserer Flucht hinein, in Dunkelheit, Angst, Panik. Ich sah Stars Tod. Manchmal fühlte ich den Schuss in meinem eigenen Rücken, fiel auf den Bauch und konnte mich nicht mehr bewegen, als hätte mich jemand an die Straße genagelt. Dann wusste ich genau, wie es für sie gewesen war zu sterben. In manchen Nächten trug Star Jeskas Gesicht. Manchmal lief Orion durchs Tor und ließ mich zurück. Doch immer, egal wie es ausging, wusste ich, dass es falsch war, dass die ganze Welt um mich herum einen Weg einschlug, der fatal enden musste, dass die Wirklichkeit einem Irrtum erlegen war, weil ich zulassen musste, dass sie Lucky verschleppten. Wenn ich dann erwachte, blieb dieser dumpfe Schmerz in mir zurück, dieses Gefühl von Leere, von Hunger, den selbst die Aussicht auf Tee und eingeweichtes Brot nicht stillen konnte.
Dann war Lucky plötzlich da. Mitten in dem nagenden Gefühl des Verlusts spürte ich seine Gegenwart. Seine Hand an meiner Wange, auf meinem Haar. Sanft. Zärtlich. Ich streckte meine Hände aus, hielt seine fest.
»Lucky«, flüsterte ich.
»Ich bin’s nur«, sagte Ricarda. »Du hast schlecht geträumt, mein Kind.«
Ich war immer noch im Zelt, drüben schlief Benni, hinten in der Ecke neben unseren Sachen Jeska, Ricardas Matte war vorne am Eingang. Ich war immer noch im Lager, in der Wildnis, und Lucky war so weit entfernt wie der Mond.
»Wer ist Lucky?«, fragte Ricarda, aber ich wollte nicht mit ihr über ihn sprechen.
Wie hätte ich ihr sagen können, dass ich mit meinem Herzen immer noch in Neustadt war? Dass da eine Verbindung war zwischen mir und diesem Jungen mit den braunen Haaren, die nicht einmal der Glücksstrom hatte abtöten können?
Ein Gefühl, so wild und mächtig und frei, dass es nur uns gehörte. Lucky und mir und niemandem sonst.
Ich hatte einen unvergleichlichen Sommer erlebt, der über uns hinweggestrichen war wie ein heißer Wind, duftend, warm, gewittrig, überwältigend, und doch konnte nichts davon meinen Verlust aufwiegen.
»Ich muss zurück«, flüsterte ich. »Ich muss zurück nach Neustadt.«
»Deine Familie ist jetzt hier«, sagte Ricarda leise. »Und wenn du erst dein Ja dazu gefunden hast, dann kannst du uns auch lieben.«
Es war zu dunkel, um ihr Gesicht genau zu erkennen. Grau dämmerte draußen der Morgen herauf, Kälte stieg vom Boden hoch. Mich fröstelte, und ich zog die Decke enger um meine Schultern.
»Wie kann man denn Liebe verordnen? Du tust so, als würde es funktionieren. Als wäre ich jetzt wirklich dein Kind. Dabei kennst du mich überhaupt nicht, ich bin eine völlig Fremde, die einfach bloß bei dir wohnt.«
»Manchmal ist Liebe ein Entschluss.«
»Ach ja? Das ist ja wie in Neustadt. Wo man jemanden von der Liste bekommt. Und nun haltet zusammen, bis ans Ende eurer Tage, denn was ihr fühlt, interessiert keinen. Ach, ihr könnt ja gar nichts fühlen! Umso besser. Wen kümmert es schon, was ein einzelner Mensch sich wünscht! Wie kann es sein, dass es in der Wildnis noch schlimmer zugeht als in Neustadt? Dass Familien einfach zusammengesetzt werden und jemand wie Paulus darüber bestimmt, wer zu wem gehört? In Neustadt durften wir ja wenigstens Listen schreiben. Aber bei euch? Ich habe noch nichts gesehen von … von Liebe.«
Ricarda schwieg lange, so lange, dass ich
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