Wild (German Edition)
Mädchen aus dem Genesungshaus! Du warst bei denen, die den Spender besucht haben.«
»Lass sie los.« Marty schnappte nach Luft, sein Gesicht rot von der Anstrengung des Laufens. »Lass sie los, Ruben, habe ich gesagt! Sie ist meine Freundin.«
Aber sein Bruder ließ mich nicht los. Er kniete immer noch halb auf mir, sein Gewicht drückte mich auf die Straße, ich spürte jeden einzelnen Wirbel in meinem Rücken.
»Bitte, Ruben«, drängte Marty. »Da hinten kommen sie schon.«
Endlich reagierte der junge Mann. Er stand auf, ohne mich loszulassen, und zerrte mich an der Jacke, die seiner Schwester gehörte, hoch. »Ist Savannah tot?«
Hinter den beiden sah ich Leute, alle in Eile. Wahrscheinlich diejenigen, die Marty so nervös machten. Sie näherten sich rasch.
Ruben wirkte nicht mehr feindselig, sein Gesicht war von Sorge verzerrt. »Ist sie tot? Habt ihr sie da draußen umgebracht?«
»Nein«, sagte ich. »Sie lebt.« Und mehr konnte ich ihm nicht erzählen, denn nun waren die anderen da, Männer in grauen Anzügen, darunter ein paar grimmig dreinblickende Frauen. Den Mann, der mich von Ruben fortriss, kannte ich zu meiner eigenen Überraschung. Ich erinnerte mich sogar an seinen Namen.
Wart Stiller. Der bärtige Anzugtyp, der versprochen hatte, uns würde nichts geschehen, wenn wir nach Hause kamen.
»Warten Sie!«, rief Ruben. »Ich bin noch nicht fertig!«
»Wissen Sie nicht, wer wir sind?«, fragte Marty mit einer affektiert-arroganten Stimme, die ich ihm gar nicht zugetraut hätte.
»Tut mir leid, die Herren Mozart Junior«, sagte Stiller kühl. »Das fällt in unser Gebiet.« Ein grauer Wagen hielt neben uns. Auch die junge Frau, die mir die Tür aufhielt, kannte ich. Hatte sie für ihre naive Freundlichkeit schätzen gelernt.
»So sieht man sich wieder«, sagte Happiness Zuckermann. Stiller schubste mich auf die Rückbank. Die Türen schlossen sich, und wir brausten davon.
Der Raum war nahezu leer, und es gab keine Fenster. Nur einen Tisch, der am Boden festgeschraubt war, und zwei Stühle, die sich ebenfalls nicht verschieben ließen. Auf einem saß ich, auf dem anderen nahm Wart Stiller Platz. Happiness Zuckermann ging mit verschränkten Armen und einem strengen Lehrerinnenlächeln auf und ab. Ihre Absätze klapperten auf dem Betonboden, und auch wenn Moon mit ihrer Garderobe nach wie vor nicht zufrieden gewesen wäre, hätten wenigstens diese hochhackigen Schuhe ihre Zustimmung gefunden.
Stiller wollte alles wissen. Von unserer Flucht durch den Sumpf. Von Orion, ob der noch lebte. Immer wieder fragte er nach Orion. Wer uns in Empfang genommen hatte. Ob es eine von Paulus’ Gruppen gewesen war und ob sie einen Arzt hatten und wie der hieß. Wer die Jäger getötet hatte.
»Ich«, sagte ich immer wieder, und dann lachte er und zupfte an seinem Bart herum, bis ich irgendwann nur noch auf sein Kinn starrte und mit Entsetzen darauf wartete, ob er sich noch ein Haar ausreißen würde. Es hätte mich nicht kümmern sollen, und doch zuckte ich jedes Mal zusammen. Als ob ein einziges ausgerissenes Haar den Schmerz und das Blut und das Knacken von Knochen in sich trug, als wäre jeder Schmerz, so klein er auch war, das Samenkorn von noch mehr Schmerz, der die ganze Welt umfasste. Meine Dunkelheit war so groß, dass ich blind davon wurde. Dann musste ich mir auch die Bilder nicht ansehen, die er auf den Tisch legte. Bilder der Toten.
»Der Schädel wurde zerschmettert. Willst du mir wirklich erzählen, das seist du gewesen?«
Es tat gut, sich die Schuld ausreden zu lassen. Seine Worte strichen wie Balsam über die Wunde, die die Nacht des Schreckens in mir aufgerissen hatte. Er schrie mich an, aber es tat gut. Es machte mir nichts aus. In der Hinsicht war ich nicht nur blind, sondern auch taub. Fast überzeugte er mich davon, dass ich es nicht getan haben konnte, und so waren wir beide zufrieden, als ich endlich damit herausrückte, es sei Orion gewesen.
Womit? Mit den Waffen, die er den Jägern abgenommen hatte, natürlich. Nein, ich wusste nichts von anderen Waffen. Sie hatten Messer, zählte das?
Stiller stellte auch viele Fragen nach dem Anführer der Wilden. Dass ich Paulus nicht mochte, gefiel ihm, daher trug ich etwas dick auf, was meine Abneigung anging. Paulus und seine Gesetze. Er entschied, wer wen heiratete, wer welche verwaisten Kinder bekam. Man musste glücklich sein, und niemand sprach über seine Gefühle. Von Leidenschaft hatte ich nicht viel mitbekommen. Alles drehte sich nur
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