Wild (German Edition)
doch schon verloren hatten?
Am liebsten hätte ich die beiden gerufen. Orion! Gabriel! Aber ich schluckte den Schrei in meiner Kehle hinunter. Und verhielt, eingefroren mitten in der Bewegung. Ich erstarrte, denn sie waren genau vor mir.
Da war der Mörder. Dunkel, gebückt schleichend. Und hinter ihm, genauso reglos wie ich, Orion.
Der Jäger hatte mich gehört. Drehte sich um.
Orion, das Gewehr im Anschlag, wollte schießen. Ich wusste, fühlte es, während er schon den Hahn spannte, während er genauso schnell reagierte wie der Reg.
Es war Moon.
In dieser einen Schrecksekunde, in der Orion nicht schoss, zögerte, vom Entsetzen getroffen wurde wie von einem Pfeil, starrte ich ungläubig in das Gesicht des Mädchens. Blondes Haar lugte unter einem Helm hervor. Diese Jägerin hätte ich nicht so einfach mit einem Stein erschlagen können. Sie war vorsichtig. Sie war klug. So wie Moon eben war. Aber seit wann war Moon blond? Denn die Züge, die blauen Augen, die Nase, der Schwung der Lippen – das alles war mir unheimlich vertraut. Moon. Meine Moon.
Orion schoss nicht. In dem Moment, als er erkannte, dass sie es nicht war, dass dieses höhnische kalte Lächeln einer Fremden gehörte, war es schon zu spät. Sie hatte auf ihn angelegt, sie wollte …
Und dann ein Schatten aus dem Unterholz, während sie schon abdrückte, und die Jägerin ging zu Boden, über ihr Gabriel. Sie bewegte sich unglaublich schnell, entwand sich ihm, trat, schlug ihn zurück. Ein Messer blitzte auf – seines? Ihres? Doch bevor sie sich befreien und erneut schießen konnte, reagierte Orion, war da, riss ihr das Gewehr aus der Hand, schlug sie nieder.
Sie schrie, fauchte wie eine Katze.
»Sie war es! Sie hat Jakob erschossen!« Gabriel krümmte sich, er hielt sich die blutende Hand.
Das Mädchen gab sich immer noch unbesiegt, kämpfte verbissen gegen Orion an. Nein, das war nicht Moon. In ihren Augen war keine Angst, nur Wut. Noch wusste sie nicht, was es hieß, den Wilden in die Hände zu fallen. »Lasst mich gehen! Ihr müsst!«
»Sie hat Jakob erschossen«, wiederholte Gabriel, Tränen liefen über sein Gesicht. Nicht der Schmerz zwang ihn in die Knie, begriff ich, sondern das Leid, die Hoffnungslosigkeit. Schon wieder eine Schlacht verloren. Ein Plan gescheitert. Schon wieder ging die Welt unter, verblutete ein Mann, war er nichts als Wild, waren wir alle Opfer.
Es war unerträglich.
Orion, seine riesigen Pranken. Auf ihrem Gesicht, ihrem Hals. Er drückte ihr die Kehle zu. Ihre Augen traten hervor, sie keuchte, wimmerte, ihre Hände rissen an seinem Arm, ihre Beine zuckten, und ich wusste, was jetzt kam, was gleich kommen würde.
Ich fasste ihn an der Schulter. »Nicht. Nicht, Orion, bitte.«
»Eine Jägerin.« Er weinte nicht, aber es war in seiner Stimme, all die Tränen, die er nie herauslassen konnte, er, der Soldat. Jakob. Jakob, der uns durch den Sumpf und den Wald geführt hatte, schweigend, grimmig, unser Jakob. »Eine Mörderin.«
»Ja«, sagte ich, »aber du nicht.«
Er wandte den Blick ab von ihr, versenkte seine Augen in meine. Was las er darin? Zu viele Gefühle? All die Gefühle, die so groß waren, dass man keines davon mehr empfinden konnte?
»Wenn du es nicht tust, mach ich’s«, sagte Gabriel. In seiner Stimme eiskalter Zorn.
Orion ließ das Mädchen los. Sie lag da und krümmte sich, hustete, das Gesicht von Tränen und Erde verschmiert, und sie war so wunderschön wie Moon, zarte weiße Haut, die blonden Locken klebten an ihrer nassen Wange, die Lippen, bläulich verfärbt, schon fast die einer Toten.
»Ich lasse sie nicht gehen«, sagte Gabriel. »Wenn du zu schwach bist, werde ich es tun.«
Orion nahm ihr den Helm ab. Jetzt sah sie noch viel mehr wie Moon aus. Wir betrachteten sie ungläubig, und Gabriel sagte ein drittes Mal: »Ich will, dass sie stirbt.«
Über uns wurde der Hubschrauber wieder lauter. Und ein fremder Mann schrie: »Savannah, komm!«
Wenn Orion und ich uns ansahen, wurden wir zu einem Wesen. Wir wussten, was der andere dachte. Oder wusste nur er es, seine Soldatengene, seine kriegerische Perfektion, die es ihm erlaubte, jedes Gefühl, jedes Stirnrunzeln, Blinzeln oder Lippenkräuseln in seinem Gegenüber zu erkennen und zu deuten? Und ich riet blind drauflos?
Jedenfalls riet ich gut. Denn ich sah seinen Hass, sein Staunen, seine Verletzlichkeit. Seine Wut darüber, dass diese Mörderin die Frechheit besaß, wie Moon auszusehen. Die Erkenntnis, was diese Tat mit ihm getan
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