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Wild (German Edition)

Wild (German Edition)

Titel: Wild (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Klassen
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undurchsichtige Wolke gebreitet zu sein, so wie immer. Doch durch den Riss in diesem Nebel kamen die Gedanken. Zischende Funken. Klare, leuchtende Linien, an denen ich mich entlanghangeln konnte. Denk nach, Pi. Denke.
    »Mein Bruder liegt im Sterben«, sagte Star zum hundertsten Mal, »und du beschwerst dich, weil deine Freundin zu viel redet?«
    Sie hielt mich für seine Freundin. Wie witzig – ich und Lucky zusammen! Aber mir war nicht nach Lachen zumute. Die Gedanken ließen es nicht zu. Sie registrierten, dass die Schüler die Flure füllten. Das Summen unzähliger Stimmen hallte durch das Gebäude, und schon stürmten die ersten schwatzenden Siebtklässler die Stufen hinunter und warfen uns angewiderte Blicke zu.
    »Normalität«, ordnete ich an. »Das ist jetzt das Wichtigste. Das ist lebenswichtig für uns, verstanden? Du gehst in deine Klasse, Star, und benimmst dich wie immer. Lass dir von jemandem eine Jacke geben, damit man nichts von den Blutflecken sieht. Und heute Nachmittag fährst du ganz normal mit dem Schulbus nach Hause. Beobachte, wie deine Eltern damit umgehen, und dann tust du ganz genau dasselbe. Bekommst du das hin? Star?«
    Um ihre Mundwinkel zuckte es.
    »Bekommst du das hin?«, wiederholte ich unerbittlich. »Du darfst es auf keinen Fall verderben. Sonst bringen sie dich zum Arzt, und dann sind wir alle dran. Denk an die Wildnis.«
    Sie wirkte so klein und verloren, als sie sich in den Strom der Schüler einreihte. Es war, als hätte ich ein kleines Papierboot gefaltet und einem Bach anvertraut. Die Wahrscheinlichkeit, dass es unterging, war recht hoch.
    Jetzt standen wir alleine da, Lucky und ich. Die vielen anderen Jugendlichen blendete ich aus.
    »Danke«, sagte er leise. »Ich hätte nicht so schnell geschaltet, was eine Blutuntersuchung bedeuten würde. Ich war … ich konnte an gar nichts denken. Ich habe nur den Jungen vor mir gesehen. Sonst nichts.«
    »Ich weiß«, sagte ich.
    »Tja.« Er lachte heiser. »Dann können wir jetzt eine Woche lang testen, wie es ist, wilde Gefühle zu haben?«
    »Sieht so aus.«
    »Ich weiß nicht, ob ich das aushalte«, bekannte er leise. »Es ist … ich bin völlig durcheinander.«
    Wie merkwürdig, dass ich mich so kühl fühlte. So klar und kalt und wissend. Es war, als würden sich die leuchtenden Gedanken schön ordnen, wie Besteck in einer Schublade . Denk nach. Eine Woche, das kann man durchhalten. Das geht. Denk nach – irgendwas hast du übersehen. Da gibt es etwas, das dir einfallen müsste. Gleich kommt der neue Gedanke …
    Aber er kam nicht. Stattdessen unterbrach uns Charitys fröhliche Stimme: »Du meine Güte, wie seht ihr denn aus? Wollt ihr in der nächsten Stunde ein blutiges Stück aus der finsteren Moderne aufführen?«
    »Wir haben die Theaterwaffe mit einem echten Messer verwechselt«, sagte ich, worauf sie schallend loslachte.
    »Echt jetzt? Und dann habt ihr euch in Theaterblut gewälzt?« Es gehörte wirklich nicht viel dazu, Charity zum Lachen zu bringen.
    Als Nächstes haben wir Biologie im zweiten Stock, teilten mir meine Gedanken mit. Die anderen werden gleich alle die Treppe herunterkommen. Tu so, als wäre nichts.
    Ich wollte schon zu einer Erklärung ansetzen, als meine Gedanken mir Einhalt geboten: Rede nicht so viel. Lass sie nicht merken, dass du denkst. Spiel ihnen was vor.
    Ich lächelte dümmlich.
    Lucky zog sein Hemd aus und warf es in einen Papierkorb. Bevor ihn Schalom mit einem frischen Shirt versorgte, sah ich ihn kurz mit nacktem Oberkörper. Lucky war dünn. Anders als die meisten anderen Jungs, denen der perfekte Athletenkörper nicht bereits in die Wiege gelegt worden war, hatte er sich kein Sixpack machen lassen. Seltsam, dass ich ihn nie gefragt hatte, was er werden wollte.
    Moon gesellte sich zu mir. »Ihr habt die ganze Stunde verpasst. Peace hat Schalom auf der Bühne abgeknutscht.«
    »Das hätte ich gerne gesehen.« Ich versuchte zu lächeln; selbst in meiner grauen Wolke war mir das leichter gefallen als jetzt.
    Während wir die Treppe zum Bioraum hochstiegen, gesellte sich Jupiter zu uns. »Bestimmt bringt Venus uns wieder Krankheitskeime mit. Dabei habe ich eine viel bessere Idee, was wir heute untersuchen könnten: den Zusammenhang des Brustumfangs mit der Intelligenz!«
    Schalom verschluckte sich fast. »Das willst du Venus fragen?«
    »Wir könnten ja auch untersuchen, inwieweit Glück, Frieden und Schönheit zusammenhängen. Ist euch auch schon aufgefallen, dass hübsche Menschen

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