Wild (German Edition)
denken – ich, Pi, die sonst immer wie auf Wolken schwebte und mit den Wänden zusammenstieß!
»Warum bist du raus aufs Gerüst? Warum war es dir nicht egal? Warum bist du nach draußen gerannt?«
»Weil … der Junge …«
Er sah mich an, als hätte er mich noch nie gesehen. »Pi«, fragte er leise, »was ist los mit dir? So viel hast du in deinem ganzen Leben noch nicht gesprochen.«
»Irgendwas hat mit der Glücksgabe nicht gestimmt«, sagte ich. »Ich habe es schon in der Mensa gemerkt. Etwas war anders. Und du«, ich wandte mich an Star, »du warst ja auch heute dran. Bei dir ist es auch anders, oder? Du dürftest dich gar nicht so aufregen.«
»Ich soll mich nicht aufregen?«, zischte sie mich an. »Mein Bruder ist verunglückt!«
»Ich weiß, was du meinst, Pi«, sagte Lucky langsam.
Wir entfernten uns vom Sprechzimmer und stiegen automatisch die Treppe hoch zur Aula. Star blieb auf dem ersten Absatz stehen. »Ich muss nach Hause«, sagte sie. »Ich muss zu meinen Eltern!«
»Die kommen damit klar. Ihr könnt jetzt nichts anderes tun als warten und hoffen.«
»Aber …«
Gedanken wie Pfeile. Wie Blitze schossen sie durch meinen Geist und schmerzten. Es war, als hätte jemand die Jalousie hochgezogen. Als hätte ich die vergangenen Jahre in der verdunkelten Aula gesessen und einem schlecht gespielten Theaterstück zugesehen. Das Licht, das jetzt hereinbrach, blendete, und die Dinge traten scharf umrissen hervor, so als würden die Ränder aller Gegenstände brennen.
»Erstens«, sagte ich, »stimmt etwas nicht mit uns. Das ist keine normale Reaktion. Letzte Woche, als der Arbeiter vom Gerüst gefallen ist, hat sich kein Mensch aufgeregt. Versteht ihr? Wir sollten uns gar nicht aufregen können .«
»Ja«, sagte Lucky. Er wirkte immer noch sehr bleich und ernst.
»Das heißt, es würde nicht mehr so wehtun, wenn ich noch mal eine Welle kriege?«, fragte Star mit zittriger Stimme. »Eine richtige? Es würde aufhören, so schrecklich wehzutun?«
Ich nickte.
»Aber … Dr. Händel wollte mir was zur Beruhigung geben. Warum hast du das nicht zugelassen?«
»Weil er kurz davor war, eine Blutuntersuchung vorzunehmen. Wenn er feststellen würde, dass mit den Glücksgaben etwas nicht stimmte, dass sie irgendwie wirkungslos waren …«
»Wilde Gefühle?«, fragte Star. Ihr Gesicht kam mir so klein und kindlich vor, dabei war sie nicht viel jünger als ich. »Du meinst, das sind … wilde Gefühle?«
»Wenn das rauskommt, werfen sie uns alle in die Wildnis. Die Wildnis«, wiederholte ich. »Da kommen alle hin, die aus dem Glücksstrom fallen.«
»Aber es war doch keine Absicht.« Luckys Gesicht hatte sich verändert, als wäre er plötzlich um Jahre gealtert. »Und es sind nur ein paar Stunden, die wir auf dem Trockenen waren. Wenn wir sofort die neue Gabe bekommen …«
»Glaubst du, unser Körper kann diese Erfahrung je wieder vergessen? Das war ja nicht gerade ein alltägliches Erlebnis. Die wilden Gefühle haben sich bereits in unser Erbgut eingeprägt.«
Sie erzählten uns immer, wie schnell das ging. Wie Gift breitete sich das Böse im Körper aus.
»Das bedeutet, dass wir den neuen Menschen sabotieren, wenn wir die Sache verschweigen«, sagte Lucky leise. »Unsere Kinder werden vergiftet geboren werden. Ich meine jetzt nicht unsere Kinder, ich meine …«
»Ich weiß, was du meinst.« Ich hatte nicht gewusst, dass Gedanken sich wie Messer anfühlen können, wie spitze Stacheln. »Wir könnten gestehen und hoffen, dass die Glücksbehörde das nicht so eng sieht … oder wir sagen nichts und warten einfach die nächste Glücksgabe ab.«
Lucky knirschte mit den Zähnen, während er nachdachte. »Es ist ungeheuerlich. Es ist gegen alle Regeln, gegen alles, was man uns beigebracht hat. Aber auf der anderen Seite steht die … Wildnis.« Ich ließ meine Worte eine Weile auf sie wirken, bevor ich weitersprach. »Wir müssen tun, als wenn nichts wäre. Wir alle. Wenn sie bei einem von uns Verdacht schöpfen, werden sie vielleicht auch die anderen untersuchen.«
Wir standen im Treppenhaus. Die Pausenklingel war hier besonders laut. Ich schrak zusammen; noch nie war ich so wach gewesen.
Denk nach. Gleich werden hier Ströme von Schülern auftauchen.
Lucky starrte mich wieder so merkwürdig an. »Pi? Es ist, als wenn du ein anderer Mensch wärst.«
Ich fühlte mich auch wie ein anderer Mensch. Ich spürte keine wilden Gefühle. Kein Entsetzen über Phils Tod. Darüber schien eine dunkle,
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