Wild (German Edition)
besonders friedlich sind? Sportler sehen nie so gut aus wie die anderen.«
»Hört, hört«, gluckste Charity. »Aber warum ist Zeus dann so süß?«
Moon legte ihren Arm um Jupiters Schultern. »Du bist kein Athlet. Ergo bist du wunderschön. Das ist Logik, mein Lieber.«
Er strahlte sie übers ganze Gesicht an. »Ja, findest du?«
»Bestimmt«, sagte Peace zu Lucky, »würdest du auch gerne den Einfluss des Küssens auf den Notendurchschnitt untersuchen.«
Wir hatten gar nicht gemerkt, dass unsere Lehrerin schon im Raum war.
»Was würdet ihr dazu sagen, wenn es heute weder um gutes Aussehen noch ums Küssen geht? Stattdessen habe ich euch echte Viren mitgebracht«, eröffnete Venus den Unterricht. Wie immer, wenn Versuche anstanden, hatte sie ihr Haar straff zurückgekämmt und zu einem strengen Knoten gebunden, aber ihr Lächeln war alles andere als streng. Venus liebte ihr Fach, und sie liebte uns.
»Gibt es denn Viren in Neustadt?«, quietschte Charity entsetzt.
»Ja, dich!«, rief Peace dazwischen.
Venus lächelte. »Es kommt vor, wenn auch selten. Seit nach der Phase der großen Umgestaltung alles Kranke in die Wildnis verbannt wurde, sind wir hier einigermaßen sicher. War schon mal jemand von euch krank?«
Köpfe bewegten sich, aber natürlich meldete sich niemand.
»Der Anteil der Personen, die sich ansteckende Krankheiten zuziehen, liegt bei 0,1 Prozent der Bevölkerung Neustadts«, klärte sie uns auf. »Durch pränatale Diagnostik und strikte Ausmerzung schadhafter Embryonen wurden auch sämtliche Erbkrankheiten so gut wie ausgerottet. Wir können heute mit Stolz behaupten, dass die Bevölkerung noch nie so gesund und glücklich war wie heute.« Venus sah in die Runde. »Ihr seid das Ergebnis – schöne, perfekte junge Menschen. Es werden allerdings noch einige Generationen vergehen, bis wir diesen Stand auf natürliche Weise halten können.« Sie ging durch die Reihen und verteilte kleine Gläser, in denen sich eine durchsichtige Flüssigkeit befand.
»Das sind unschädlich gemachte Viren vom Typ Morbus Fünf Alpha. Diese Krankheit führte noch während der Unruhen nach dem letzten Europäischen Krieg zum Tod von Zehntausenden von Menschen in Süd- und Osteuropa. Unsere Proben hier sind natürlich völlig harmlos«, beeilte sie sich zu versichern. »Auch wenn sie unangenehme Symptome hervorrufen. Ihr würdet husten und euch sehr krank fühlen, und für die Ärzte wäre es schwer festzustellen, ob ihr das echte Morbus Fünf hättet oder nicht. Also passt lieber auf, ja? Wir werden unter dem Mikroskop beobachten, wie die Viren andere Zellen okkupieren und zerstören. Auch wenn sie entschärft sind, ist äußerste Vorsicht angebracht. Behandeln wir dieses Präparat bitte so, als wären wir uns nicht ganz sicher, ob es tatsächlich unschädlich ist. Stellt euch vor, es könnte euch töten.«
Wir durften die Mikroskope aus dem Schrank holen und an die Computer anschließen, wo man die Bilder beliebig vergrößern und dreidimensional betrachten konnte. Ehrfurchtsvoll drehte ich das Virenglas in den Händen. Mein Vater konnte mir bestimmt mehr dazu erzählen, schließlich arbeitete er mit Krankheiten. Wenn er bisher von seiner Arbeit berichtet hatte, war ich in meinem Zustand nur niemals wirklich fähig gewesen, ihm zuzuhören. Sobald es kompliziert wurde, schweiften meine Gedanken ab. Vielleicht konnte ich jetzt, wo ich mich so wach wie nie fühlte, etwas mehr erfahren – auch wenn mich das Ganze in wenigen Tagen voraussichtlich nicht mehr interessieren würde.
Es gelang mir, den hauchdünnen Objektträger unter der Linse zu platzieren, ohne ihn fallenzulassen oder zu zerbrechen. Da kam ein völlig absurdes Glücksgefühl über mich. Meine Finger gehorchten mir! Ich konnte sogar winzige Gegenstände anfassen, ohne danebenzugreifen! Ich konnte mich konzentrieren, ohne umzukippen! Der Raum schwankte nicht, meine Beine eierten nicht. Mir war nicht schwindelig. Nichts zerfloss. Das Mikroskop war so scharf zu sehen, dass ich sogar dachte, ich bräuchte es nicht, um selbst die kleinsten Teile mit eigenen Augen zu erkennen. Kurz fühlte ich mich schuldig, weil ich Phil vergessen hatte. Doch als hätte mein neuartiger Verstand nur darauf gewartet, dass mein Glück wieder verflog, schob er einen Gedanken dazwischen, der mich wie ein Pfeil traf: Wer hatte heute noch alles eine Welle bekommen? Was, wenn die ganze Charge fehlerhaft gewesen war? Dann würden ungefähr hundert Schüler und ein paar Lehrer
Weitere Kostenlose Bücher