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Wild (German Edition)

Wild (German Edition)

Titel: Wild (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Klassen
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verwirrt und möglicherweise in Panik durch die Gänge stolpern. Wir hatten keine Chance, ihnen allen klarzumachen, dass sie Stillschweigen bewahren sollten. Es würde rauskommen. Es musste rauskommen. Ich hätte Star die Beruhigungsspritze, die sie so nötig hatte, nicht verwehren sollen, denn unser Geheimnis war so oder so nicht zu retten, und das Mädchen brauchte Hilfe, um nicht völlig durchzudrehen. Vielleicht wären sie so nachsichtig gewesen, uns doch nicht in die Wildnis zu verbannen, wenn wir nur sofort gebeichtet hätten.
    Für so schlau hatte ich mich gehalten. Gedanken, knisternd vor Schärfe und Cleverness, dabei war es völlig unmöglich, diese Sache zu vertuschen. Wir waren verloren.
    »He, Pi«, sagte Moon und schob mich sanft zur Seite, »lass mich mal lieber da ran. Nicht, dass schon wieder was zu Bruch geht. Wir sollen vorsichtig sein mit diesen Viren.«
    Wie viel hatte ich schon zerbrochen in diesem Schuljahr?
    Ich dachte an Star. Warum um alles in der Welt hatte ich das getan? Unsere Welle war nur Stunden her. Man konnte es vielleicht immer noch richten. Eine zweite hinterhergeben, bevor der Organismus die ganze Wucht der wilden Gefühle zu spüren bekam. Ein paar Stunden reichten doch sicherlich nicht aus, um das Böse in die DNS einzugraben? Je früher die Glücksgabe kam, umso besser. Und wenn Dr. Händel nichts in die Dateien eingab und die Behörde nicht informierte, würde es nie irgendjemand erfahren. Ob er das wohl für uns tun würde? Das Mittel war schließlich immer noch in unserem Blut, wenn auch zu schwach. Die Wirkung hatte nachgelassen, aber es musste immer noch reichlich Glück im Körper sein. Wenn wir schnell genug handelten, vermieden wir, dass wir bald ganz aufs Trockene gerieten.
    Mir wurde kalt. Wenn es jetzt schon so heftig zu spüren war und das, obwohl die unwirksame Welle erst ein paar Stunden her war, hieß das, es würde vermutlich noch schlimmer werden. Was hatte ich bloß angerichtet durch meinen kläglichen Versuch, die Sache zu vertuschen?
    Ich ließ mich auf den Stuhl fallen, während Moon am Objektiv drehte, und begegnete Luckys Blick.
    »Es tut mir leid«, formten meine Lippen.
    »Jetzt ist es scharf«, sagte Moon, die am Objektiv drehte. »Willst du mal gucken? Aber ramm dir nicht wieder das Teil da ins Auge.«
    Lucky blinzelte mir über die Tische hinweg zu, als ich mich zum Mikroskop beugte.
    Ich konnte meinen Körper beherrschen, ohne irgendwo anzustoßen. Ich ging wie auf einer Brücke über den dunklen Wolken, in denen ich so lange gelebt hatte. Und ich wusste, dass ich auf keinen dieser sieben Tage verzichten wollte, ganz gleich, was es mich und die anderen kostete.

7.
    Die Tränen kamen in der Nacht. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass ich weinen würde. Dass ich weinen konnte. Zuerst war es wie ein Rückfall in die gewohnte Nebelwolke, in einen Zustand, in dem sich die letzten klaren Gedanken verabschiedeten, doch dann ging alle Vernunft flöten, und ich versank in einem schwarzen See aus Entsetzen.
    Phil. Ein Zehnjähriger, zerschmettert auf dem harten Pflaster. Wie hatte ich es ausgehalten, hinzusehen? Wie hatte ich es geschafft, Dr. Händel anzulügen und ihm etwas von wegen Romeo und Julia vorzuspielen? Ich wusste es nicht. Ich wusste gar nichts mehr. Ich fühlte nur, wie ich stürzte, in ein schwarzes Loch hinein, das alles aufsog, woraus ich bestand, und es durcheinanderschüttelte. Phil. Das Blut. Lucky. Lucky mit dem blassen, entsetzten Gesicht, mit der Panik in der Stimme, als er versucht hatte, die Kinder vom Gerüst zu holen. Lucky, der aus dem Fenster stieg … Ich sah immer nur Lucky vor mir. Besser ihn als den zerbrochenen Jungen, aber irgendwann wusste ich nicht mehr, was schlimmer war, an Lucky zu denken oder an Phil. Oder an Star, wie sie weinte.
    Auch das hatte ich nicht gewusst: dass Tränen nicht in den Augen entstehen, sondern von ganz tief innen kommen, aus dem Bauch, und dass das Schluchzen einen langen Weg durch den ganzen Körper nimmt und dabei alles verätzt, den Magen und die Luftröhre und die Kehle. Dass alles wehtut und man keine Luft mehr bekommt. Dass man nicht aufhören kann zu weinen, als wäre man eine eingeschaltete Maschine, die sich nicht selbst abschalten kann.
    Das hier, irgendwie schlängelte sich ein Gedanke durch den Tränennebel, das hier ist das, wovor sie euch bewahren wollen.
    Wilde Gefühle. Leid. Leidenschaft. Aggression. Daraus erwachsen Kriege. Das ist der böse Keim in der Seele eines jeden

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