Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wild (German Edition)

Wild (German Edition)

Titel: Wild (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Klassen
Vom Netzwerk:
Menschen. Das sind die Altlasten, die wir abwerfen auf dem Weg zum neuen Menschen.
    Ich fühle keine Aggression, hielt ich dagegen. Das ist nur … Trauer. Und ich will sie nicht. Ich will das nicht fühlen. Ich ertrage es nicht. Gleich morgen früh geh ich zu Dr. Händel und beichte ihm alles und empfange die Welle und tauche in den Glücksstrom … den Glücksstrom …
    Und dann werfen sie uns in die Wildnis hinaus.
    Am Morgen erwachte ich auf einem nassgeweinten Kissen.
    Ich habe geträumt, dachte ich. Davon, dass ich eine unwirksame Welle bekommen habe und die Welt sich verändert hat.
    Aber vielleicht hatte ich auch mein bisheriges Leben geträumt und war jetzt endlich wach.
    Im Bad spritzte ich mir kaltes Wasser ins Gesicht. Aus dem Spiegel blickten mir die vertrauten hellbraunen Augen entgegen, denen man zum Glück die vielen Tränen nicht ansah. Die Pupillen kamen mir kleiner vor als sonst.
    »Ja, Adlerauge«, sagte ich zu mir, »wie es scheint, siehst du endlich klar.«
    Auf einmal freute ich mich auf die Schule. Das war … ungewohnt. Es war ein Gefühl, scharf und klar wie meine Augen, fast schmerzhaft. Du wirst Lucky dort sehen. Nein, ich freute mich gar nicht. Was, wenn er sich bereits überlegt hatte, zu Dr. Händel zu gehen? Was, wenn er bereits dort war?
    Mein Tom piepte einmal kurz auf. Eine Nachricht von Lucky: Geht es dir gut? L.
    Lucky schrieb mir sonst nie. Das war nicht gut – wir sollten uns lieber wie immer verhalten. Durch meine Vorfreude sickerte die Angst, jemand könnte etwas von unserem Geheimnis mitbekommen.
    Könnte nicht besser sein. P. , antwortete ich. Ich fahr gleich los.
    Meine Mutter war in ihrem Atelier und malte. Sie stand häufig früh auf, um schon gegen sechs Uhr mit dem Malen anzufangen. Der Geruch der Farbe war so intensiv, dass ich mich dazu überwinden musste, den Kopf durch die Tür zu stecken. »Mam?«
    Sie hatte ihr blondes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, einen Pinsel zwischen die Lippen geklemmt und nagelte gerade eine Leinwand auf einen hölzernen Rahmen. »Mmmh?«
    »Ich … ich geh dann. Viel Spaß.«
    Sie zwinkerte mir zu und widmete sich wieder ihre Arbeit. Auf einmal überkam mich das Bedürfnis, sie zu umarmen. Ich drängte die Gedanken, die mich daran erinnern wollten, um jeden Preis an der Routine festzuhalten, beiseite, und schlang meine Arme um ihren Rücken. Tief atmete ich ihren Duft ein, nach Lack und den diversen Zusatzstoffen, die sie der Acrylfarbe zufügte, nach dem Waschmittel, mit dem sie unsere Kleidung wusch, und vielleicht war sogar eine Spur ihrer Haut zu riechen zwischen all diesen starken Düften, warm und mütterlich. Ich wollte ihr sagen, was mit mir geschehen war, aber sie würde es nicht verstehen.
    Niemand würde es verstehen, außer den beiden, die ich in der Schule treffen wollte: Lucky und Star. Den beiden, auf die ich mich freute und vor denen ich mich fürchtete.
    »Auf Wiedersehen, Mam. Bis nachher.« Etwas Besseres fiel mir nicht ein. Etwas Bedeutungsvolleres. Etwas, das irgendwie dem, was in mir aufgeflammt war, Ausdruck verleihen konnte.
    Es hatte keinen Zweck, es auch nur zu versuchen. Sanft öffnete ich die Tür und schloss sie behutsam hinter mir.
    Vor der Schule stand Star herum. Sie hatte die Hände in den Taschen vergraben, den Kopf gesenkt, und die roten Locken wirkten wie ein blutiger Fleck gegen die hohe pfirsichfarbene Betonwand hinter ihr.
    »Pi?« Moon wollte mich weiterziehen, aber ich stemmte die Füße in den Boden.
    »Geh schon vor.«
    »Ich halte dir einen Platz frei.« Moon zwinkerte mir liebevoll zu. Ich hätte sie so gerne eingeweiht, mich von ihr trösten lassen, aber ich widerstand der Versuchung. Wir durften Moon nicht mit hineinziehen.
    Ich blieb einfach stehen, während der Strom der Schüler auf das Eingangstor zustrebte, um von dem Kasten, in dem wir jeden Tag viele Stunden zubrachten, verschluckt zu werden. Eine Weile sagte ich kein Wort. Ich traute mich nicht, Star zu fragen. War es nicht klar, wie es ausgegangen war?
    »Er war zu schwer verletzt«, sagte ich schließlich. »Nicht wahr?«
    »Nein, er lebt.« Sie hatte die Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepresst.
    »Ja? Aber das ist ja … oh Star, ich hatte nicht erwartet …«
    »Kein Grund zum Jubeln.« Sie funkelte mich an. Trotzig. Beinahe feindselig. Eine andere Star als gestern, nicht mehr heulend und verstört, sondern … wild. Ich dachte: Das ist ein wildes Geschöpf. Unberechenbar. Sieh dich vor. Gleich fällt sie dich an,

Weitere Kostenlose Bücher