Wild (German Edition)
Leidenschaft musste verbannt sein, für ein ganzes Leben, damit sie die nächste Generation nicht in Mitleidenschaft zog.
Aber die Angst in Martys Augen … Weil ich so aufgeregt gewesen war im Genesungshaus, hatte sich mir jedes Detail eingeprägt. Das Zimmer. Phil. Und dann sein Besucher, dieser hübsche junge Mann. Wie war die herrische Arroganz, mit der er aufgetreten war, mit dem Glücksstrom vereinbar? Erst sein kalter, verächtlicher Blick – und dann das Lächeln, das sein Gesicht verwandelte, als er ans Krankenbett des Jungen trat. Die perfekten Fingernägel an der Hand, die sich um den Bettpfosten krallte und dieses Lächeln Lügen strafte. Noch jemand voller Angst und Gefühl …
»Ist dir was an diesem blonden Typen aufgefallen? Der so getan hat, als wären wir Ungeziefer.« Lucky runzelte die Stirn. »Wenn Moon reich ist, dann ist der megareich, wetten? Die schwimmen in Geld. Ich wette, das ist eine Familie von ganz oben.«
Ich hatte mir nie Gedanken darüber gemacht, dass es Leute gab, die noch reicher sein könnten als Moons Familie.
»Du kannst mich für verrückt halten – aber ich schätze, das war Martys Bruder«, fügte Lucky nachdenklich hinzu.
»Unsinn«, widersprach ich. »Er kann keinen Bruder haben, nur eine Schwester. Ein Junge und ein Mädchen, das gilt für alle.«
Ich sah mich vorsichtig um, denn unser Gesprächsthema beinhaltete wirklich alle Tabus, die man sich nur vorstellen konnte. Doch die anderen achteten gar nicht auf uns. Moon flirtete gerade mit einem Jungen ein paar Tische weiter. Star nuckelte an ihrem Cocktail und wirkte völlig abwesend.
»Vielleicht war es ein Cousin. Oder ein Freund der Familie. Ein Onkel.«
»Träum weiter«, sagte Lucky. »Glaubst du immer noch, dass für uns alle dieselben Regeln gelten?«
Wieder fühlte ich die Traurigkeit über mich kommen, die schon immer mein Begleiter war, solange ich zurückdenken konnte. Für mich hatten seit frühester Kindheit andere Regeln gegolten, schließlich war ich nicht umsonst ein Einzelkind. Wenn das nicht Fakt wäre, dann hätten sie mir Lucky zugeteilt. Mir und niemandem sonst.
»Jetzt habe ich Lust zum Tanzen«, sagte Moon. »Wer kommt mit?«
Mein Herz schlug immer noch so heftig, dass ich von seinem Gewicht fast vornübergezogen wurde. Unsere Zukunft hing an einem seidenen Faden. Um sie zu bewahren, durften wir nicht auffallen, keinen falschen Schritt tun, wir mussten sein wie alle. Trotzdem konnte ich es nicht über mich bringen, Moon jetzt noch auf eine Party zu begleiten.
»Ich bin müde«, sagte Star leise und rang sich ein Lächeln ab. »Ein andermal.«
»Ich muss auch passen«, sagte Lucky.
»Na gut, fahren wir nach Hause«, meinte Moon. »Ohne euch macht es nicht halb so viel Spaß.«
Die Nachtluft war weich an meinem Gesicht, als wir die belebte Hauptstraße erreichten und zu unserer Haltestelle schlenderten. Lucky hatte die Hände in den Taschen vergraben, und ich wünschte mir, die Schaufenster und Schilder hätten nicht ganz so hell geleuchtet. Auch nachts war es schwer, Geheimnisse zu bewahren und Gefühle, und wir sahen bestimmt beide nicht gerade glücklich aus.
Trotz des kalten weißen Lichts der Laternen, trotz der schrecklichen Dinge, die heute geschehen waren, wollte ich dieses Gefühl festhalten. Es einpacken und für immer behalten. Diese Sommernacht und Lucky, der so anders war als sonst, nicht albern und aufdringlich, sondern traurig und verstört – und selbst das war kostbar, denn es war echt. Das waren unsere Gefühle, und sie waren wild und fremd und taten so schrecklich weh, dass es kaum auszuhalten war. Und auch das wollte ich festhalten.
Als wir durch die funkelnden Straßen zurückfuhren, sah ich unsere vier Gestalten in den Scheiben der Bahn gespiegelt, und ich dachte: Wir sind aber nicht wie alle. Zwei wunderschöne Mädchen, die eine groß und dunkelhaarig und vollkommen, die andere klein, zierlich, ein Rotschopf mit lustigen Grübchen. Dazu der schlanke Junge, der den Kopf gegen das Glas gelehnt hatte, die Augen geschlossen, als wollte er vor all dieser Schönheit fliehen. Und ich zwischen ihnen.
Mein Aussehen konnte ich nicht beurteilen; ich war daran gewöhnt und fand es okay. Aber am schönsten kamen mir nicht die beiden perfekten Mädchen vor, sondern der erschöpfte Junge mit den braunen Haaren. Ich stand direkt neben ihm, aber mir kam es vor, als wären die beiden gespiegelten Figuren einander viel näher, als wir echten Menschen es je sein konnten.
Da
Weitere Kostenlose Bücher