Wild (German Edition)
durchquerten dabei eine Hitzeschleuse, die alles desinfizierte und dadurch sowohl verhinderte, dass Parasiten nach Neustadt gelangten, als auch, dass die Kranken heimlich zurückkehren konnten.
»Du weißt aber nicht, wann.«
»Stimmt. Weiß ich nicht. Dann warte ich eben so lange am Tor, bis sie den Zug losschicken.«
»Du bist verrückt«, sagte ich.
»Nein«, widersprach er, obwohl er es eben noch zugegeben hatte. »Verrückt wäre es, hierzubleiben. Hier, unter all diesen Wahnsinnigen, und wieder einer von diesen kichernden Zombies zu werden. Also, bist du dabei?«
»Ich soll für den Rest meines Lebens mit Leuten zusammenwohnen, die eklige Hautkrankheiten haben? Wenn die einen nicht sowieso gleich abschlachten, sobald sie einen erwischen.«
»Da draußen sind keine Kannibalen.«
»Weißt du das sicher?«
»Nein. Weißt du es denn? Alles, was wir über die Leute da draußen wissen, haben wir in der Schule gelernt. Wie glücklich wir alle sind. Der neue Mensch dies und der neue Mensch das. Vielleicht sollten wir es drauf ankommen lassen und selbst herausfinden, was hinter dem Zaun los ist.«
Ein Teil von mir stimmte ihm zu. Der Teil, der sich vor nächstem Dienstag fürchtete, der rennen wollte, so weit wie möglich. Aber gleichzeitig war ich entsetzt. All das hier hinter mir lassen? Meine Familie. Meine Freunde. Moon und Lucky. Lucky und Moon. Meine Gedanken hakten sich an Lucky fest, der ein fester Bestandteil meines Lebens war. Ihn zu verlassen wäre dasselbe, wie einen Teil meines Körpers zu verlieren, einen Arm oder ein Bein. Immer noch brannte dieser Augenblick in mir, als er meine Hand genommen und mich in der spiegelnden Fensterscheibe angesehen hatte.
»Ich kann nicht«, sagte ich.
Er ließ diese Antwort eine Weile auf sich wirken. »Na gut«, meinte er. »Damit habe ich zwar nicht gerechnet, aber dann habe ich dich wohl falsch eingeschätzt. Ich dachte, du wärst mutiger. Immerhin warst du klug genug, um die Sache für dich zu behalten, während du gleichzeitig überprüft hast, ob es anderen ähnlich geht. Das hat mir imponiert. Aber wenn du nicht willst, dann vergiss es. Ich hoffe bloß, du verrätst mich nicht.«
»Natürlich nicht«, sagte ich. Wir schwiegen eine Weile, bis ich es nicht mehr aushielt. »Woher nimmst du den Mut dazu?«
»Was kann denn schlimmer sein, als zu bleiben?«
Ein neues Gefühl wuchs in meinem Bauch, dunkel, bitter, ein nagender Schmerz. Es fiel mir schwer, diese fremdartigen Empfindungen einzuordnen. Der Junge auf meinem Bett würde nicht aufhören, zu fühlen und so zu empfinden wie jetzt, während meine Träume schon wieder ausgeträumt waren, bevor ich es gewagt hatte, sie näher zu betrachten. Bald würde ich wieder in meiner grauen Wolke verschwinden und mir den Kopf an den Wänden stoßen. Das dunkle Gefühl verdichtete sich, wurde schwerer, stieg gleichzeitig höher, sodass ich den brennenden Geschmack auf meiner Zunge spürte.
»Pia? Was war das für ein Lärm?« Die Tür ging auf, und meine Mutter knipste das Licht an.
Wir hatten vergessen zu flüstern. Und nun war es zu spät, um Orion aus dem Fenster zu stoßen oder unter dem Bett zu verstecken. Uns blieb nur, einfältig zu lächeln und unsere geheime Verschwörung zu vertuschen, indem wir zwar ertappt taten, aber nicht so ertappt, wie es ein geplanter Landesverrat verdient hätte.
»Ach, Mam!«, sagte ich, als hätte sie mich und Orion gerade beim Küssen oder Rummachen erwischt. Dabei saßen wir nur auf dem Bett. Sogar auf der Bettdecke, um genau zu sein.
»Oh … ich meine, Entschuldigung, ich wollte nicht stören.« Nein, keine mütterliche Aufregung darüber, dass ich nächtlichen Besuch hatte. Meine Mutter lächelte und wirkte auf einmal sehr zufrieden. Wahrscheinlich freute sie sich, dass ich doch normaler war, als sie geglaubt hatte. Sie schaute von mir zu Orion, betrachtete sein schwarzes Haar, und ihre Augen wurden groß.
»Du bist doch … ich hab dich gesehen, in den Nachrichten, du bist doch dieser Joyspieler? Zeus?«
»Knapp daneben«, sagte Orion und streckte ihr seine Pranke entgegen. »Orion. Zeus ist der andere, der Blonde.«
»Tja, das ist … Meine Güte, Pia. Aber ich, ähm, na, dann lass ich euch mal lieber allein.«
Sie wich rückwärts aus dem Zimmer und machte zu. Dann ging die Tür noch mal auf, ihre Hand schnellte um die Ecke zum Lichtschalter, und wir saßen wieder im Dunkeln.
»Tut mir leid«, sagte Orion zerknirscht.
»Oh, das braucht es nicht. Das war bestimmt
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