Wild (German Edition)
öffnete er die Augen und erwiderte meinen Blick, dort in der Scheibe. Offen und klar, ein Blick, der nichts zurückhielt. Seine Augen waren dunkel und intensiv, als wären sie lebendig.
Wir sahen einander an.
Vor uns in der Scheibe bewegte der schöne Junge die Hand und tastete nach meiner. Seine Haut war warm, und mit meinen Gefühlen passierte etwas, womit ich nicht gerechnet hätte. Es war, als würden sie explodieren und dann wie Funken nach oben steigen und davonfliegen, sodass ich zurückblieb, ohne Wildheit, ohne Sorgen, ohne die Furcht, erwischt zu werden, im Nacken. Ohne Phil auf seinem Krankenbett und ohne die Angst in den Augen des fremden kleinen Patienten. Alles löste sich auf und schwamm davon, und zurück blieb etwas, das ganz leicht war, leichter als Atmen.
Die beiden Gesichter in der Scheibe der Bahn lächelten einander zu.
Zum ersten Mal in meinem Leben empfand ich Glück.
10.
Mitten in der Nacht schrak ich hoch. Ich hielt die Luft an und lauschte. Spürte, wie mir kleine Schweißtröpfchen über den Rücken liefen.
Sie sind da, war mein erster Gedanke. Jetzt. Sie holen mich ab, es ist alles rausgekommen … Doch dann bemerkte ich, dass keine uniformierten Soldaten die Tür eingetreten hatten, sondern dass das Geräusch vom Fenster her kam. Ein Scharren.
Jemand war draußen, vor meinem Fenster.
Mein Herz weigerte sich, normal weiterzuschlagen. Ich kroch aus dem Bett und tastete mich vorsichtig durchs Zimmer. Der Lichtschein der Straßenlaternen fiel durch den Zaun und malte ein Muster auf die Hauswand.
Da war eine dunkle Gestalt.
Ich öffnete das Fenster. »Lucky?«, flüsterte ich.
Mir kam gar nicht in den Sinn, dass es jemand anders sein könnte. Freude wallte in mir hoch. Lucky. Lucky kam zu mir! Wie ich hatte er das Gefühl, dass der Moment in der Straßenbahn nicht ausgereicht hatte, dass es nicht genügte, sich ein paar Sekunden aneinander festzuhalten. War es nicht seltsam, das im Glück der Keim des Unglücks eingebettet lag? Auch das hatte ich nicht gewusst. Dass der Wunsch, ihn wiederzusehen, so brennen könnte. Dass es unmöglich sein könnte, auch nur ein paar Stunden bis zum Morgen zu warten.
Erst als die Gestalt vor die Scheibe trat und die schwarze Silhouette vor mir auftauchte, riesig wie ein Ungeheuer, ging mir auf, dass das kaum Lucky sein konnte, und aus meiner Kehle kam ein Laut des Schreckens. Kein Schrei, obwohl ich schreien wollte, denn das Entsetzen schnürte mir die Luft ab, und ich brachte nur ein tonloses Ächzen heraus.
»Keine Panik«, flüsterte der Einbrecher und kletterte an mir vorbei ins Zimmer. Ich konnte keinen Finger rühren, um ihn aufzuhalten. Erst als er neben mir stand und das Laternenlicht von draußen auf sein Gesicht fiel, erkannte ich Orion.
»Was machst du denn hier?«, fragte ich, schwindelig vor Erleichterung.
»Pst.« Er steckte den Kopf hinaus, schaute sich kurz um und schloss dann sorgfältig das Fenster. »Besser, niemand weiß, dass ich hier bin.«
»Ähm, Orion – was soll das, wenn ich fragen darf?«
Er kam mir riesig vor, wie er so vor mir stand, und mir fiel ein, dass er vielleicht gefährlich war. Schließlich war er viel stärker als ich, und ich hatte ihn verärgert.
War er gekommen, um es mir heimzuzahlen, entfesselt von seinen wilden Gefühlen? Oder dachte er etwa, ich wäre hinter ihm her, weil ich ihm buchstäblich nachgelaufen war? Dann war er hoffentlich nicht beleidigt, wenn ich ihn wieder rauswarf.
»Du kannst doch nicht einfach hier reinschneien, mitten in der Nacht!«
Er schleppte sich zu meinem Bett und setzte sich auf die Kante. Bei diesen wenigen Schritten fiel mir auf, dass er kaum laufen konnte.
»Dein Bein!«
»Eine Zerrung, glaub ich«, sagte er leise. »Aber ich will auf keinen Fall, dass sie mich untersuchen.« Selbst im Halbdunkeln kam mir sein Gesicht schmerzverzerrt vor, und ich hörte, dass er abgehackt atmete. »Du hast da ein paar Sachen angedeutet. Ich wollte nur wissen, ob … Ich weiß nicht, wie ich das jetzt fragen soll.«
Oh weh. Das fing an wie eine Liebeserklärung, nicht wie ein Geheimnis über wilde Gefühle.
»Ach, Orion«, warf ich dazwischen, »ich meine, ich fühle mich natürlich geehrt und so, aber …«
»Wovon sprichst du?«
»Keine Ahnung«, sagte ich. »Wovon sprichst du denn?«
Wir schwiegen uns an. Keiner wollte anfangen und etwas zugeben, was er möglicherweise bereute. Doch immerhin war Orion hier bei mir durchs Fenster gestiegen, also war er derjenige, der
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