Wild (German Edition)
etwas von mir wollte. Obwohl er sich kaum bewegen konnte, war er hier. Sollte er damit rausrücken, was immer es war.
Orion schwieg trotzig.
Er hatte jetzt auch noch sein Bein hochgelegt und machte es sich bequem. Mit Andeutungen kamen wir hier nicht weiter.
»Deine Welle hat versagt«, sagte ich auf gut Glück. »Deshalb kannst du nicht zum Arzt. Du versuchst, so zu leben, dass niemand es merkt. Stimmt’s?«
Ich wartete auf eine Antwort. Das Bett knarrte, als er sein Gewicht verlagerte.
»Ich werde abhauen«, sagte er.
In der Stille, die uns umfing, hörte ich, wie er atmete. »Du willst … äh?«, stammelte ich, da er darauf wartete, dass ich reagierte. »Aber …«
»Dienstag müssen wir zur nächsten Glücksgabe«, sagte er. »Ich will weg, bevor irgendjemand merkt, was mit mir los ist. Morgen ist ein wichtiges Spiel, aber wenn ich danach verschwinde, wird erst mal keiner nach mir suchen. Wäre nicht das erste Mal, dass ich die Schule schwänze.«
»Aber wo willst du denn hin?« Er ist verrückt, dachte ich. Völlig verrückt. Das tun Gefühle mit einem Menschen.
»Wenn ich nicht bei Dr. Händel erscheine, werden sie mich suchen, aber bis dahin haben wir noch fast eine Woche Zeit. Am besten bin ich über den Zaun, bevor es so weit ist.«
»Über den Zaun«, wiederholte ich blöde und war in Gedanken noch bei unserem Grundstückszaun, über den er geklettert sein musste – ein Kunststück mit dem verletzten Bein –, bevor mir klar wurde, was er meinte. »Über den Zaun? Du willst … in die Wildnis? Orion, das ist doch verrückt!«
»Natürlich ist es verrückt. Aber soll ich am Dienstag zum Arzt gehen, als wenn nichts wäre, und mir dieses Zeug verpassen lassen – und weiterleben wie bisher? Ich fühle. Ich lebe. Ich bin endlich ich. Du weißt, wie es ist, oder? Gibst du dich wirklich mit dieser einen Woche zufrieden? Nicht mit mir! Aber es ist deine Entscheidung, Peas. Ich wollte es dir nur sagen, für den Fall, dass du mitkommen willst.«
Das Laternenlicht verwandelte die Dunkelheit in ein diffuses Grau. Ich sah ihn vor mir, ein Ungeheuer der Nacht, ein Irrer, der gekommen war, um meine ganze Welt oder was davon noch übrig war, zu zerbrechen.
Nichts von dem, was er sagte, ergab einen Sinn.
»Wie bitte?«, fragte ich matt. »Wie kann man freiwillig in die Wildnis gehen, zu den ganzen Kranken und Ausgestoßenen? Wir verhalten uns doch gerade unauffällig, damit man uns nicht in die Wildnis wirft!«
Er packte meine Schultern. Sein Griff war so fest, dass es wehtat. »Willst du oder nicht? Du musst dich entscheiden. Jetzt.«
»Ich kapier das nicht«, sagte ich. »Wenn du raus willst, warum sagst du ihnen nicht einfach, dass du aus dem Glücksstrom gefallen bist? Dann fahren sie dich bis ans Tor. Das haben wir oft genug im Fernsehen gesehen.«
Er zögerte. »Darüber habe ich lange nachgedacht. Es klingt so verführerisch einfach. Aber was ist, wenn sie mir einfach eine neue Gabe verpassen?«
»Das geht nicht«, sagte ich. »Dein Erbgut ist vergiftet.«
»Sie könnten mich aus dem Partnerprogramm nehmen und meine Freundin mit jemand anders verkuppeln. Meine verdorbenen Gene sind im Moment doch völlig irrelevant. Hauptsache, ich gewinne die Spiele für sie. Ich bin der zweitbeste Athlet in unserem Bezirk. Irgendwie habe ich den Verdacht, dass sie mir nicht einfach so ein Ticket für die Wildnis in die Hand drücken würden.«
Auf die Idee, dass man uns nicht sofort verbannen würde, war ich noch gar nicht gekommen. Wie eine schwarze Gewitterwolke hatte meine Angst vor der Wildnis alles überschattet. Konnte es wirklich sein, dass das eine leere Drohung war?
»Und wir?«, fragte ich. »Ich meine, wir Nicht-Sportler? Wir sind nicht so wichtig. Uns werfen sie bestimmt raus. Ich hoffe, du kannst schweigen, wenn sie dich erwischen.«
»Uns?«
Statt einer Antwort zuckte ich mit den Achseln, denn ich hatte nicht vor, Lucky und Star zu verraten. Dafür fiel mir noch etwas anderes ein. Sein Plan war nicht nur verrückt, er war auch völlig unmöglich. »Wie willst du denn eigentlich über den Zaun kommen?«
»Sie öffnen das Tor für die Waggons mit den Resten. Hattet ihr das nie im Unterricht?«
»Doch, natürlich.« Frieda hatte uns davon erzählt. Was von unseren Lebensmitteln übrig blieb, wurde auf offenen Waggons in die Wildnis gefahren, wo die Armen und Verhungernden sich daran bedienen konnten. Die Züge wurden automatisch gesteuert; nach einer gewissen Zeit kamen sie wieder zurück und
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