Wild (German Edition)
wenn er noch so altklug daherredete.
»Du kriegst keine Glücksgabe, oder?«, fragte ich.
Er klammerte sich an mich, während er hustete. Ich wollte ihm sagen, dass er sich von dem Gedanken verabschieden sollte, dass Stars Bruder ihn retten würde. Sie durften Phil das Herz nicht herausoperieren. Wir mussten es verhindern, aber ich wusste nicht, wie. Einen Todkranken aus dem Genesungshaus entführen? Wohin sollten wir ihn denn bringen?
»Wir brauchen so was nicht«, wisperte der Junge. »Wir sind nicht wie die anderen.«
Ich drückte seine Hand. »Hab keine Angst«, sagte ich zu ihm, obwohl ich mir mehr als alles andere wünschte, er würde Phils Herz nicht bekommen. Nein, ich wusste überhaupt nicht mehr, was ich mir wünschen sollte. Ich spürte nur, wie mir das Entsetzen über den Rücken lief, eine Kälte wie die Berührung eisiger Krallen. »Hab keine Angst.« Ich wiederholte es ein paar Mal, weil ich keine anderen Worte fand. »Es wird alles gut.« Doch sobald ich diesen Satz ausgesprochen hatte, bereute ich es heftig, denn damit beschwichtigten sie auch Phils Eltern, damit speisten sie uns alle ab.
Nichts würde gut werden. Für einen von diesen beiden Jungen würde es böse enden, und ich wusste auch, für wen.
Ich löste meine Hand von seiner und schaute in seine schmerzumwölkten Himmelsaugen. Kein Glücksstrom. Er war seinen Gefühlen ausgeliefert, so wie wir drei, und dabei war er so jung und hilflos. Mein Mitleid, meine Wut – was davon war stärker?
In diesem Moment riss jemand die Tür auf, und eine energische Stimme verkündete: »Hier ist er. Na, wie geht es heute unserem Marty?«
Hinter der hünenhaften Genesungshelferin, die in ihrer weißen Uniform wie ein Eisbär aussah, trat ein junger Mann ins Zimmer. Er war groß und blond und von einer Perfektion, wie sie selbst bei den reichsten Kindern an unserer Schule selten war. Zum Glück hatte er keinen Blick für uns, sondern eilte sofort an das zweite Bett, wo ihn der herzkranke Junge mit einem seligen Seufzer begrüßte. »Ruben. Du bist da.«
»Warum hast du kein Einzelzimmer?«, fragte der Fremde mit befehlsgewohnter Stimme.
»Vater wollte, dass ich ihn atmen höre«, sagte Marty und hustete.
Wir anderen wandten uns hastig Phil zu, in der Hoffnung, die Helferin nicht auf uns aufmerksam zu machen. Ich wollte mir sein Gesicht nicht anschauen und starrte auf die Bettdecke, aber meine Augen machten sich selbständig. Phils Hinterkopf war verbunden, und auf einer Seite klebte ein längliches Pflaster von seinem Ohr bis zum Hals, durch das man dunkel einen klaffenden roten Riss erahnen konnte. Von der anderen Seite her wirkte er jedoch nahezu unversehrt. Da waren nur ein paar Abschürfungen auf seiner blassen Wange und seinen Stirn. Er sah aus, als würde er schlafen.
Dieses Kind hatte nie erfahren, was Angst ist.
»Was macht ihr denn hier, ihr süßen Schätzchen?«, fragte die Genesungshelferin. »Der Aufenthalt im Genesungshaus ist für Gesunde nicht gestattet.«
»Bloß Besuch aus der Schule. Und schon auf dem Weg hinaus«, antwortete Lucky rasch, und im nächsten Moment standen wir alle auf dem Gang.
»Weg hier«, stieß ich hervor. »Schnell.« Ich konnte fühlen, dass die Frau uns nachkam. Gleich würde sie Alarm schlagen. »Da ist der Fahrstuhl! Rasch!«
Irgendjemand hinter uns fragte mit barscher Stimme: »Was machen die denn hier?« Das klang nicht nach jemandem, der im Glücksstrom schwamm.
Doch schon öffnete sich die Lifttür und wir schlüpften hinein. Während sich die Kabine schloss, sah ich durch den Spalt gerade noch den Sprecher, einen älteren Mann, der uns ganz ohne glückliches Grinsen nachstarrte.
Wenn mich jetzt jemand ansprach, würde es aus mir herausbrechen, das wusste ich, ich würde schreien, so laut, wie ich noch nie geschrien hatte. Aber es würde nicht helfen, auch das war mir klar.
Ich lehnte den Kopf gegen die Wand und schloss die Augen. Es kann nicht sein … Es darf nicht sein …
Aber all das passierte wirklich, und ich konnte nichts dagegen tun.
»Pi?«, fragte Lucky leise. »Alles in Ordnung?«
»Nein«, antwortete ich heftig. »Ganz bestimmt nicht!«
Star wischte sich eine Träne aus den Augenwinkeln. »Danke«, flüsterte sie, »dass ihr mit mir hergekommen seid.«
Unten in der Halle ging es laut und fröhlich zu wie bei einer Party. Eine Gruppe von Helfern applaudierte gerade, während Moon und Jupiter sich an den Händen fassten und verbeugten. Jupiters Gesicht war wieder sauber, nur
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