Wild (German Edition)
stinkt zum Himmel.«
Ich wollte protestieren, aber da ergriff Orion schon das Wort. »Sie haben recht«, sagte er. »Da waren an die zwanzig, dreißig Wächter. Dazu die Posten oben auf den Wachtürmen. Wart Stiller war auch dort, ich habe ihn gesehen. Und all diese Leute konnten uns nicht daran hindern, durchs Tor zu laufen?«
»Die haben uns nicht absichtlich entkommen lassen!«, rief ich. »Sie haben Star erschossen!«
Paulus zuckte mit den Achseln. »Warum auch nicht? Sie brauchten sie nicht, und nachdem, was ihr uns erzählt habt, hatten sie noch ein Hühnchen mit ihr zu rupfen. Auf der Warteliste für die Organe standen noch eine Reihe weiterer Reg-Patienten. Es genügte, dich entkommen zu lassen, Junge. Was auch immer du auf dem Verladebahnhof gesehen hast, in dem Moment hast du dein Schicksal besiegelt. Sie wollten dich tot sehen – gleich dort oder hier bei uns. Vermutlich ist ihnen in der Zwischenzeit klar geworden, wie wertvoll jemand wie du sein könnte, um die Jäger ins Lager zu führen. Ein Soldat, der auch wirklich bei uns ankommt, der sich weder von den Junkies noch von sonst etwas aufhalten lässt. Deshalb haben sie dir eine Agentin nachgeschickt, die den Sender einsetzen sollte. Man kann auch seine Feinde benutzen, und zum Töten und Sterben ist immer noch genug Zeit. Die Regs schlagen gern mehrere Fliegen mit einer Klappe.«
»Happiness Zuckermann«, stöhnte ich auf. »Und dann hat sie uns auch noch ans Tor gebracht. Dabei war sie so nett. Sie hat gar keine Fragen gestellt.«
»Natürlich«, sagte Jakob lakonisch. »Sie wusste ja schon alles.«
»Ich hab doch gesagt, es war zu leicht«, flüsterte Orion. Er ballte die Fäuste vor Wut.
»Es sind Kinder«, sagte Ricarda sanft. »Wenn sie ihren Gegner unterschätzt haben, ist das nicht ihre Schuld.«
»Dass sie Pia mit durchgelassen haben, war nicht wirklich nötig«, meinte Helm. »Aber vermutlich haben sie sich gedacht, dass wir Orion mit wesentlich mehr Vertrauen empfangen würden, wenn er jemanden zur Seite hätte, der seine Geschichte, dass er bloß ein harmloser, ahnungsloser Schüler ist, bestätigt.«
»Aber wie wusste die Regierung … die Regs … denn überhaupt, dass wir fliehen wollten?«, fragte ich.
»Ist euch nie der Gedanke gekommen, eure Toms könnten abgehört werden? Und euren Aufenthaltsort konnten sie damit ebenfalls nach Belieben feststellen.«
Orion und ich sahen uns entsetzt an. Wir waren in einer glücklichen, friedlichen Umgebung groß geworden. Da dachte man nicht darüber nach, ob man abgehört oder überwacht wurde. Jetzt war mir endlich klar, warum Helm meinen Tom zerstört hatte, warum sie Orions Gerät weggebracht hatten, um eine falsche Spur zu legen. Und warum das, wie wir alle gemerkt hatten, nicht funktioniert hatte.
»Gut.« Paulus nickte. »Ich habe genug gehört. Die Sitzung ist hiermit beendet.«
»Wie geht es Alfred?«, fragte Ricarda.
Gabriel zuckte die Achseln. »Er kommt durch – hoffentlich. Seinem Jammern nach zu urteilen stirbt er spätestens heute Mittag. Ärzte sind die allerschlimmsten Patienten, glaubt mir. Sie können einfach keinen Schmerz aushalten.«
Orion verzog die Lippen zu einem winzigen Lächeln.
»Das ist nicht witzig, Gabriel«, sagte Paulus steif und verließ das Zelt.
Ricarda folgte ihm sofort nach draußen. »Was ist denn jetzt mit dem Jungen? In welche Familie kommt er?«, verlangte sie zu wissen.
Paulus, der die Tarnung des Versammlungszeltes überprüfte, wirkte leicht genervt. Ihre penetrante Art kostete ihn sichtlich viel Geduld. »Du brauchst nicht noch mehr Kinder, du brauchst einen Mann. Ihn zum Beispiel.« Er streute ein paar zusätzliche Blätter auf die Plane und wies auf Rightgood, der gerade hinter Orion aus der Zeltöffnung kroch und nun entsetzt zusammenzuckte.
»Ich habe eine Familie, in Neustadt!«, protestierte er.
»Mann, das haben alle Neuen. Es zählt nicht mehr. Betrachte dich als geschieden.«
»Es gibt keine Scheidungen mehr in der neuen Welt«, flüsterte Rightgood.
»Nun, hier schon. Aber weißt du was? Noch viel öfter gibt es hier Witwen und Witwer und Waisen. Doch auf sich allein gestellt kann in der Wildnis niemand überleben.«
Es war das erste Mal, dass einer von ihnen das Wort »Wildnis« benutzte. Helm hatte immer »Wald« gesagt oder »Gelände« oder »Lager«. Doch Paulus wusste, was das hier wirklich war. Ich begegnete seinem Blick, und obwohl ich ihn schon nach dieser einen Begegnung nicht gerade sympathisch fand, musste
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