Wild (German Edition)
etwas, das jeder hier auswendig konnte. Sofort sah ich wieder Star vor mir, die mit blutigem Rücken fiel … hörte die Schüsse …
Ich musste mich zwingen, in die Gegenwart zurückzukehren. »Und Gabriel? Warum hat der auch eine?«
»Die zweite Plakette trug Paulus’ Frau. Als die Regs sie erschossen haben, hat Paulus ihre Kette Gabriel gegeben, zum Andenken an seine Mutter.«
Ich blieb stehen. »Was? Gabriel ist Paulus’ Sohn?«
Vielleicht hätte mir die Ähnlichkeit schon vorher auffallen sollen. Das dunkelblonde Haar, die drahtige Statur. Aber Paulus hatte verboten, sich gegen die Regs zu wenden, um nicht ihre Rachegelüste zu wecken, und Gabriel hatte einen der Jäger erstochen.
»Das Problem ist bloß«, fuhr Jeska mit einem verschwörerischen Grinsen fort, »dass er auch Alfreds Sohn ist.«
Sie freute sich sichtlich über meine verblüffte Miene.
»Kein Mensch hat zwei Väter«, widersprach ich.
»Gabriel schon. Er war der Sohn von Paulus, aber wie gesagt, die Jäger haben sie beide erwischt, Paulus und seine Frau Jala. Alle dachten, seine beiden Eltern seien tot. Also hat Alfred Gabriel bei sich aufgenommen und angefangen, ihn auszubilden. Aber dann kam Paulus wieder und wollte Gabriel zurückhaben, und es gab einen bösen Streit. Gabriel wollte lieber bei Alfred bleiben, und schließlich musste Paulus ein Machtwort sprechen.«
Auf einmal gab dieser Satz einen Sinn: Du kannst mir nicht noch einen Sohn verweigern …
»Paulus wird Orion wegschicken, oder?«, fragte ich.
Das waren schlechte Aussichten. Wenn die Männer sich so hassten, wie konnte ich dann hoffen, dass Paulus dem Arzt einen Wunsch erfüllte?
»Keine Ahnung«, sagte sie. »Paulus ist immer für eine Überraschung gut.«
Erst als wir die Zelte unter den Netzen erreichten, ein paar Kinder uns lautstark ankündigten und eine groß gewachsene Gestalt mit Krücken auf uns zuhumpelte, konnte ich wieder richtig atmen.
»Orion!« Ich schlang die Arme um ihn. Atmete seinen Duft ein, nach Gras und See. Wahrscheinlich hatte er wieder stundenlang am Ufer gesessen. »Du bist noch da!«
»Und das Beste ist, ich bleibe auch«, sagte er. Stand wie ein Fels, trotz seines Beins, trotz seiner Schulter. »Ein paar Männer bringen Rightgood zu den Wildschweinen, und wir zwei gehören nun offiziell zu den Damhirschen. Na, wie gefällt dir das? Paulus hat seine Entscheidung getroffen, und Alfred hat wieder einen Helfer – einen ziemlich angeschlagenen, muss ich allerdings hinzufügen.«
Ich erinnerte mich an seine Verletzungen und gab ihn hastig wieder frei. Die Schüsse in meinen Ohren wurden leiser, so leise, dass ich das Schnattern der Enten auf dem See hörte, das Wispern der Blätter im Abendwind. Stars blutende Gestalt verblasste vor meinen Augen.
Wir sind angekommen , flüsterte Lucky.
Am nächsten Tag kamen Jakob und seine Begleiter schwer bepackt zurück, heil und gesund.
Das Brot war so hart, dass ich mir fast die Zähne daran ausbiss.
»Dummerchen. Du musst es im Tee einweichen«, erklärte meine neue Schwester mir. Sie hatte zwei Becher Tee von einer Familie ein paar Zelte weiter ergattert.
Niemand durfte einfach so ein Lagerfeuer machen, denn der Rauch konnte den Jägern verraten, wo wir waren.
»Ab und zu haben wir unser eigenes Feuer«, verriet mir Jeska. »Aber zurzeit ist es streng verboten. Paulus befürchtet, die Regs könnten Orion suchen.«
»Wirklich? Das hat er mir gar nicht erzählt.« Ich nippte von der heißen Flüssigkeit und verbrühte mir die Zunge. »Frühlingswetter! Ich dachte, wir haben kein Feuer!«
Meine neue Schwester lachte. »Frühlingswetter? Ich finde es einfach zu lustig, wie du fluchst.« Dann senkte sie die Stimme. »Wir haben eine Sonnenschüssel in unserer Gruppe. Du hast sie bloß noch nicht zu Gesicht bekommen. Sie ist wertvoll, und ein paar der anderen Familien sind immer noch etwas misstrauisch euch gegenüber.«
»Eine Sonnenschüssel?«
»Eine Schüssel, die die Sonnenenergie benutzt. Ich darf dir nicht zu viel verraten, falls du doch eine Spionin bist, aber wir haben ein paar Solargeräte, die wir verstecken müssen, damit sie nicht den Jägern oder anderen Gruppen in die Hände fallen. Wir haben sogar einen Computer und ein Radio.«
»Die Gruppen bestehlen sich gegenseitig?«
»Es gibt überall schlechte Menschen. Sogar hier in der Wildnis.«
Ich erwiderte ihr Lächeln. Dann hörte ich die klaren Gedanken in meinem Kopf sagen: Sieh an.
»Ich wette, ihr könnt sogar das Programm von
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