Wild (German Edition)
ich doch würdigen, warum er der Anführer war. Er wusste Bescheid. Er würde die Gefahren dieser Welt nicht kleinreden.
Rightgood wollte erneut protestieren, aber Orion legte ihm beschwichtigend eine Hand auf den Arm. Anders als der schmächtige Institutsmitarbeiter hatte er sofort begriffen, dass man Paulus besser nicht zu oft widersprach.
»Dieser Mann kann mir nicht helfen«, sagte Ricarda entschlossen. »Er kann die Zeltstangen nicht tragen oder die Netze weiter oben an den Ästen befestigen. Steck ihn zu einer kräftigen Frau mit älteren Kindern, die ihm alles beibringt, was er wissen muss. Der junge Soldat ist ein zusätzlicher Esser, aber er ist stark, er kann mir den Ehemann ersetzen. Er wird keine Last sein.«
»Nein.« Ob das etwas Persönliches war zwischen Paulus und Ricarda? Was sie gesagt hatte, klang vernünftig, aber er ließ sich nicht beirren. »Deine Kinder brauchen einen Vater, keinen großen Bruder. Und die Kleine da« – meinte er mich damit? – »kann nicht mit ihrem Bruder befreundet sein. Der Junge kommt in eine andere Gruppe. Nimm den Kerl hier, oder du musst auf die nächste große Jagd warten und darauf, wer alleine zurückbleibt.«
Ich hätte gerne gewusst, wie viele Menschen die Jäger erwischten. Mit wie vielen Opfern Paulus rechnete, wie viele Familien zerstört werden würden. Wollte Ricarda wirklich einen Mann, dem die Regs gerade die Frau erschossen hatten?
»Ich überlasse nicht jedem die Entscheidung«, sagte er leiser, nur für sie bestimmt, aber ich stand nah genug neben ihr, um ihn zu verstehen.
»Mir wirst du sie überlassen. Weil ich Jeska und Benni genommen habe.«
Ricarda schien ständig zu kämpfen, sie nahm nichts einfach hin. Widerwillig bewunderte ich sie dafür. Schlimm genug, dass man mir eine neue Mutter verpasst hatte, ich wollte nicht auch noch Rightgood zum Vater, daher stand ich voll und ganz auf ihrer Seite.
Was mein eigener Vater wohl im Moment tat? Hatten die Regs meinen Eltern erklärt, dass ich geflohen war, und warum? Wohl kaum. Bestimmt hatten sie sich eine andere Begründung für unser Verschwinden ausgedacht. Und meine Eltern kümmerte es wahrscheinlich sowieso nicht, was mit mir los war. Ihre Tochter war verschwunden, na und? Vielleicht hatten sie Abschied genommen, in der Halle des Glücks, und mich im Sarg liegen sehen, während die sanfte Musik ihre Trauer besänftigte. Ein Hologramm. Warum auch nicht? Es war so leicht, Menschen verschwinden zu lassen, viel leichter, als ich jemals gedacht hatte.
Ihre dunklen Bilder würde meine Mutter anschließend verstecken, hinter dem Schrank, neben den Gemälden, die sie nach dem Tod meiner Oma gemalt hatte.
»Komm, Pia«, sagte Ricarda, und ich wehrte mich nicht gegen ihren Arm um meine Schultern, als sie mich demonstrativ wegführte. Von Paulus. Aber auch von Orion.
»Ich nehme ihn«, sagte eine laute Stimme.
Wir drehten uns noch mal um, gerade rechtzeitig, um Paulus dabei zu ertappen, wie ihm das Kinn herunterklappte.
Alfred war zwischen den Bäumen aufgetaucht. Blass, mit zahlreichen Pflastern mitten im Gesicht, hielt er sich an einem Baumstamm fest.
»Was sagst du da?«, fragte Paulus. »Das kannst du nicht ernst meinen. Dieser Junge hat dich fast das Leben gekostet.«
»Und es gerettet, während die Bomben schon fielen. Ich nehme ihn.«
Ich wusste nicht, warum, aber Alfreds Angebot gefiel Paulus keineswegs. Er presste die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen.
»Du triffst die Entscheidung«, sagte Alfred leise. »Wie immer.«
Was auch zwischen diesen beiden Männern war, es entschied über Orions weiteres Schicksal. Orion, den ich auf keinen Fall verlieren wollte, der mich in dieser merkwürdigen Welt, in der ich noch lange nicht alles durchschaute, nicht allein lassen durfte.
»Er kann mir zu Hand gehen, wenn wir Patienten transportieren müssen oder dergleichen. In nächster Zeit kannst du diesen Jungen sowieso zu keiner anderen Gruppe schicken. Orion gehört unter ärztliche Aufsicht, bis er sich vollständig erholt hat. Du kannst mir nicht für immer einen Sohn verwehren.«
Sie maßen sich mit Blicken.
Paulus war so wütend, dass er bestimmt gleich explodierte, doch er hielt sich zurück. Sein Gesicht verriet nichts und seine Stimme klang kalt, als er schließlich sagte: »Ich werde darüber nachdenken. Du erfährst es als Erster.«
Ricarda drängte mich, weiterzugehen. Sie wollte offenbar nicht darüber reden, was hier vor sich ging, daher würde ich meine neue Schwester
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